Über das Kompetenzziel des Wollens und den Beifang des Könnens – ein Dialog zwischen Anwendung und akademischem Anspruch
Text: Prof. Dr. Andreas Lanig & Thomas Erasimy
Alumnus Thomas meldet sich mit einem Impuls, den er selbst „Impuls der Verzweiflung“ nennt:
Ich sehe, dass einige meiner ehemaligen Kommilitonen noch immer grundlegende Schwierigkeiten haben, das Gelernte digital umzusetzen. Wie viel Praxis gehört eigentlich ins Studium?
Andreas: „Thomas, ein Studium kann nicht alle denkbaren Anwendungsfälle vorwegnehmen. Wichtig ist, induktiv denken zu lernen – eigenständig Lösungen aus konkreten Situationen zu entwickeln.“
Thomas berichtet aus seiner Studienzeit: „Wir haben damals selbstorganisiert nachts Räume geöffnet, um uns gegenseitig in digitaler Software zu helfen. Oft waren meine Kommilitonen mit den Anwendungen überfordert. Eine Kommilitonin fragte mich kürzlich sogar, ob sie eine bestimmte Designlösung überhaupt so umsetzen dürfe.“
„Genau das ist der Kern des Problems“, erwidert Andreas. „Technologie wird zunehmend komplex und zugleich unsichtbarer. Wir dürfen nicht erwarten, jedes technische Detail zu vermitteln. Wichtiger ist, Studierende in die Lage zu versetzen, sich Probleme selbst zuzutrauen und Lösungen eigenständig zu erarbeiten.“
Ja, aber wir brauchen doch grundlegendes Vertrauen im Umgang mit den Werkzeugen. Wer ständig Angst hat, Fehler zu machen, wird kaum Neues wagen.
Andreas ergänzt nüchtern: „Das stimmt. Dennoch ist der Mut zum Ausprobieren und das Zutrauen und die Zuversicht, komplexe Aufgaben aus eigener Kraft lösen zu können, zentral. Das ist etwas, was gerade die Hochschule als geschützter Raum gut trainieren kann.“
Thomas überlegt kurz und fasst zusammen: „Vielleicht ist genau das die zentrale Balance: Die Hochschule sollte nicht nur Können, sondern auch dieses Wollen vermitteln – die Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen und Neues auszuprobieren.“
Andreas bestätigt abschließend: „Richtig, genau darin liegt der Schlüssel. Akademische Bildung und praktische Fertigkeiten ergänzen sich idealerweise genau dort, wo sie Studierende befähigen, eigenständig weiterzulernen und sich kontinuierlich weiterzuentwickeln."
Andreas und Thomas verabschieden sich, wohlwissend, dass ihre Perspektiven unterschiedlich bleiben. Gerade diese Vielfalt zeigt, wie produktiv der Austausch zwischen Theorie und Praxis sein kann – eine lebendige Debatte, die stets aufs Neue geführt werden muss.
Ein Nachdenken über das Wollen und das Können im Zeitalter intelligenter Dinge
Ein paar Tage nach dem Gespräch mit Thomas sitzt Andreas spätabends allein im Büro. Das letzte Gespräch beschäftigt ihn noch immer. Er öffnet WhatsApp, zögert kurz, dann tippt er.
Andreas: „Thomas, unser letzter Austausch über das ‚Wollen‘ hat mir keine Ruhe gelassen. Mich beschäftigt die Frage, was genau dieses Wollen eigentlich ausmacht. Vor allem im Vergleich zu KI – können Maschinen wirklich ‚wollen‘, oder ist das etwas fundamental Menschliches?“
Thomas antwortet kurze Zeit später: „Interessant, ich dachte auch darüber nach. Maschinen optimieren ständig Algorithmen und lernen aus Daten. Das sieht doch nach einem klaren Ziel, nach Absicht, nach Wollen aus, oder nicht?“
Andreas tippt: „Das ist eben der Punkt. Ich frage mich, ob dieses Optimieren wirklich vergleichbar ist mit unserem menschlichen Wollen. Bei Kant zum Beispiel ist der Wille nicht einfach ein unbewusster Trieb, sondern bewusste Zielsetzung, geprägt von Vernunft und Freiheit (Kant, 1785). Eine KI folgt programmierten Befehlen, egal wie komplex sie auch sind. Sie hat keine Intention.“
Stimmt, aber wir Menschen sind doch auch irgendwie programmiert – genetisch, sozial. Wir reagieren auf Erziehung, auf Erfahrungen. Ist unser Wollen dann nicht ebenso vorherbestimmt wie das einer Maschine?
Andreas lehnt sich zurück, denkt kurz nach und schreibt dann: „Natürlich sind wir auch beeinflusst. Aber wir besitzen die Fähigkeit zur Reflexion und können uns bewusst gegen Impulse oder Prägungen entscheiden. Genau hier liegt doch der entscheidende Unterschied: Unser Wollen ist nicht nur zielgerichtet, sondern eben intentional – bewusst auf etwas hin gerichtet (Dennett, 1987). Maschinen agieren zweckorientiert, aber ohne Bewusstsein für ihr Handeln.“
Thomas lässt sich Zeit mit der Antwort. Schließlich meldet sich sein Smartphone wieder: „Was ist, wenn sie irgendwann scheinbar kreativ wird oder sogar Emotionen simuliert?“
Andreas spürt den Ernst dieser Frage und antwortet vorsichtig: „Simulation von Emotionen oder Kreativität bedeutet nicht, dass dahinter echtes Empfinden oder Wollen steckt. John Searle beschreibt das mit seinem Gedankenexperiment des ‚Chinesischen Zimmers‘: Eine Maschine kann sprachliche Zeichen manipulieren, ohne deren Bedeutung zu verstehen (Searle, 1980). Genau hier wird sichtbar, dass Simulation nicht gleich Realität ist.“
Thomas: „Ich verstehe, was du meinst. Das heißt also, das Wollen bleibt eine ausschließlich menschliche Kategorie?“
Andreas schließt seine Gedanken mit einer letzten Nachricht ab: „Deshalb glaube ich, dass unsere Bildung mehr denn je darauf abzielen muss, dieses spezifisch menschliche Wollen zu stärken – das bewusste, reflektierte und autonome Handeln. Es geht vor allem um das Bewusstsein dafür, warum wir tun, was wir tun. Nicht das Wozu. Diese Fähigkeit unterscheidet uns von Maschinen, ganz egal, wie fortgeschritten sie sind (Weber-Guskar, 2021).“
Die letzte Nachricht wird gelesen. Keine Antwort folgt, und doch: Der Dialog wird weitergehen.
Literatur:
Dennett, D. (1987). The Intentional Stance. MIT Press.
Kant, I. (1785). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
Searle, J. (1980). Minds, Brains, and Programs. Behavioral and Brain Sciences, 3(3), 417–457.
Weber-Guskar, E. (2021). Über Künstliche Intelligenz philosophieren.


