Werte und Hochschulkultur: Lebensringe – Wachstum und Werte
Interview: Dr. Carsten Kolbe im Gespräch mit Ehrenpräsident Prof. Hans Hübner
Portrait und Illustrationen: Eva Strobel <ef.strobel@yahoo.de>
Interview mit Prof. Hans F. W. Hübner, Gründungsrektor, Präsident und mittlerweile Ehrenpräsident der DIPLOMA Hochschule mit Sitz in Bad Sooden-Allendorf.
Dr. Carsten Kolbe (CK): Herr Prof. Hübner, wie stehen Sie zum Thema Wachstum?
Prof. Hübner: „Wachstum“ ist ein vielseitig verwendeter Begriff aus dem menschlichen Leben und vielen wissenschaftlichen Bereichen, ohne den ein Existieren und Sichweiterentwickeln überhaupt nicht möglich ist. Nehmen wir den Bereich der Biologie: Hier sind Entstehung aus dem Samen, Zellteilung bis zur Lebensfähigkeit, dann Wachstum bis zur Blüte, Ernte der Früchte, Ruhephase und Rückgang zu nennen, um in der nächsten Generation diesen beschriebenen Zyklus wieder beginnen zu können. In der Volkswirtschaft ist der Begriff „Wachstum“ als Zunahme des Bruttosozialproduktes mit Prosperität, Wohlstand und Weiterentwicklung verbunden. In der Betriebswirtschaftslehre ist Wachstum im Allgemeinen mit einer Zunahme des Umsatzes, des Personals, der Bilanzsumme usw., im Bereich der Pädagogik mit Zunahme des Wissens und der Kompetenzen zum Handeln und Vermitteln zu verstehen. In unseren Schulen und der DIPLOMA Hochschule haben wir es mit Wachstum dieser Arten zu tun.
CK: Gab es in Ihrem Leben besondere Wachstumsmomente?
Prof. Hübner: Natürlich gab es Momente, die in der Retrospektive als Wachstum und damit als positive Erfahrungen zu bezeichnen sind. Für mich war das Wissenswachstum und damit das Vorankommen in der Schule über die Mittlere Reife zum Abitur hin und dann zum Universitätsstudium bedeutsam sowie erhebend, zumal ich diesen Weg aus einer nicht wohlhabenden und nicht akademisch vorgebildeten Familie geschafft und wohlwollende Lenkung durch Mentoren erhalten habe; dafür bin ich dankbar. Wachstumsmomente waren natürlich meine Familiengründung, die Geburten und das Aufwachsen meiner beiden Kinder und mittlerweile auch der Enkelkinder. Auch der Zuwachs von Freunden im In- und Ausland sowie der Zuwachs an Freude am Musizieren und Singen sind Wachstumsmomente, die ich nicht missen möchte. Aber auch der Zuwachs an Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung während meines Berufslebens waren besondere Wachstumsmomente.
CK: Wachstum der Hochschule vom ersten Moment an bis heute. Was fördert und was bremst das Wachstum einer Organisation?
Prof. Hübner: Während Wachstum in der Natur einem immanenten biologischen Weg folgt und damit vom Menschen bisher nicht oder nur wenig beeinflusst werden kann, entsteht Wachstum in Unternehmungen, also auch Hochschulen, durch bewusste unternehmensinterne und -externe Entscheidungen. Es begann 1994 mit einer Entscheidung, die im Team unter der Ägide vom Hochschulträger Bernd Blindow getroffen wurde, eine Hochschule besonderer Prägung zu gründen und dabei insbesondere Berufstätige zu berücksichtigen. Die Idee war geboren und konnte in Nordhessen an einem Standort der Blindow-Schulen in Bad Sooden-Allendorf umgesetzt werden. Unser Konzept wurde 1997 genehmigt, sodass wir 1998 mit den ersten 32 Studierenden im Präsenz- und Fern-Studiengang BWL den Studienbetrieb beginnen konnten. Weitere Studiengänge, wie Wirtschaftsjura und Diplom-Ergotherapie sowie Diplom-Physiotherapie folgten bis heute; es sind zurzeit 40 Bachelor- und Masterstudiengänge in den Bereichen Wirtschaft, Technik, Soziales und Pädagogik, Gesundheit und Psychologie sowie Gestaltung und Medien. Die Studierendenzahl ist auf ca. 8.000 angestiegen. Beflügelt wurde diese Entwicklung dadurch, dass das zunächst wohnortnahe Studienangebot digitalisiert und virtuell in der Live-Online-Form durchgeführt wurde. Zum Wachstum kamen die Gewinnung von Franchise-Partnern im Inland und insbesondere Hochschul-Partnerschaften in China hinzu.
Die Motivation des Personals, die Freude am Mitgestalten und die Hochschule blühen zu sehen, waren natürlich Wachstumstreiber. Es gab aber auch Rückschläge, die das Wachstum hemmten, so z. B. das Auslaufen der Diplom-Studiengänge und der Bologna-Prozess, der mit viel personellem und finanziellem Aufwand wie Akkreditierungen, neuen personellen Besetzungen, Marketing-Veränderungen usw. einherging. Auch Konkurrenzangebote und Corona-Beschränkungen waren nicht umsatzförderlich, konnten aber dank der engagierten Mithilfe aller Beteiligten positiv umgemünzt werden.
CK: Wie sieht ein Wachstum bei Studierenden aus? Gibt es verschiedene Wachstumstypen und zeitliche Abläufe innerhalb eines Studiums?
Prof. Hübner: Wachstum bei Studierenden selbst ist der Fokus unseres Tuns; sie zu motivieren zu lernen und Schlüsselqualifikationen und weitere Kompetenzen zu gewinnen, steht im Mittelpunkt unserer Lehre und auch der Prüfungen, die ja Kontrollen des Studienerfolgs darstellen. Die Wachstumstypen beim Wissenserwerb sind sicherlich so vielfältig wie die Studierenden selber. Durch unsere klaren Modulbeschreibungen und Modulverteilungspläne werden Studierende sinnvoll durchs Studium geleitet und theoretisch wie praktisch auf das selbstständige Arbeiten und das Lösen von Aufgaben unter Anwendung wissenschaftlich gesicherter Methoden vorbereitet. In den Abschlusskolloquien zeigt sich die Krönung der im Studium erworbenen Fähigkeiten, die die Studierenden selbstkompetent und sicher zeigen. Das bestandene Examen ist nicht nur für die Studierenden eine Freude, sondern schafft auch für die sie betreuenden Lehrenden ein gutes Gefühl, Studierenden auf ihrem Weg zum Akademiker-Status geholfen zu haben.
CK: Sie waren der Motor für die Akkreditierung des Bachelor-Studienganges „Naturheilkunde und komplementäre Heilverfahren“ (B.Sc.). Was können wir aus dem Bereich der Naturheilkunde über Wachstum lernen?
Prof. Hübner: Ja, die Naturheilkunde liegt mir sehr am Herzen, zumal ich 1978 eine Überprüfung der Fähigkeiten als Heilpraktiker abgelegt und viele Jahre nebenberuflich eine Praxis betrieben habe. Naturheilkunde hat das Heilen einer Situation auf natürliche Weise zum Gegenstand. Im Falle von Störungen des Wachstums soll die Naturheilkunde Selbstheilungskräfte freisetzen, die das System wieder ins Gleichgewicht bringen sollen. Dieses geschieht häufig, hat aber auch seine Grenzen. Für eine Organisation wie die Hochschule und ihren reibungslosen Ablauf sollen die Beteiligten als Studierende, Lehrende, Verwaltende und Leitende harmonisch zusammenwirken. Wo diese Harmonie auseinanderdriftet, ist es die Aufgabe der Leitenden und Gremien, durch Gespräche, Einsichten, Konfliktlösungen und weitere deeskalierende Methoden unternehmensintern Einigkeit herzustellen. Erst, wenn diese Selbstheilung nicht zum Vorteil aller Beteiligten gelingt, bedarf es weiterer exogener Entscheidungen zur Lösung eines Konfliktes.
CK: Gibt es auch „erfolgreiches Schrumpfen“?
Prof. Hübner: Wenn Wachstum z. B. als Produkt der Hochschule in Form eines Studienganges, eines Studienortes oder Studiensystems den Zenit der Lebenszykluskurve überschritten hat und in die Schrumpfungsphase übergegangen ist, bedarf es des Nachdenkens über eine Überprüfung des Portfolios; dieses führt dann in eine Sortimentsbereinigung, die ein Studienangebot zeitgemäß hält und die Hochschule durch Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit sichert. Sicherheit kann dann als erfolgreiches Schrumpfen verstanden werden, das die Basis für Neuentwicklungen bietet.

Geboren 1944, Abitur Braunschweig 1964; Bundeswehr-Dienst; Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Göttingen 1970, seit 1972 tätig in der Bernd-Blindow-Gruppe als Dozent, Schulleiter, Schul- / Hochschulgründer. Illustration: Eva Strobel

