Thesen und Appelle zur „geistigen Kost“ im Online-Studium

Text: Prof. Dr. Andreas Ken Lanig

Im Rahmen einer Interviewstudie mit einer Studentin im ersten Studienjahr erlebte ich einen Moment, der mich tief beeindruckte und mir die Essenz unseres gestalterischen Lernens näherbrachte. Die Studentin erzählte von einem „mindblowing“ Schlüsselmoment, der ihr Denken und Arbeiten grundlegend veränderte.
 

Während einer Übung im Layout-Programm machte sie eine falsche Eingabe und gab versehentlich einen Wert ein, der das Zehnfache des Üblichen betrug. Anstatt dies als Fehler abzutun, erkannte sie in der entstandenen Verzerrung eine faszinierende Möglichkeit. Diese unbeabsichtigte Abweichung wurde zur Kernidee ihres entstehenden Werkes. Was zunächst als Fehltritt erschien, entpuppte sich als inspirierender Impuls für ihre künstlerische Weiterentwicklung.

Die Studentin reflektierte, dass dieser vermeintliche Fehler im geschützten Raum des ersten Studienjahrs der wahre Auslöser für ihren künstlerischen Mut war. Sie wagte es, den „Fehler“ nicht als solchen zu betrachten, sondern als Chance, neue Wege zu beschreiten. Dieser Mut wurde durch die kritischen Gespräche mit ihren Kommiliton:innen und Lehrenden gestärkt. Ohne diesen diskursiven und unterstützenden Rahmen hätte sie nach eigener Aussage nicht den Mut gehabt, diesen zufälligen Impuls als Wegweiser zu akzeptieren.

Dieser Schlüsselmoment verdeutlicht die Bedeutung des Zufalls im Studium, aber auch die Notwendigkeit eines fruchtbaren, diskursiven und pädagogischen Kontexts, der Raum für Experimente schafft. Es geht nicht nur um die Fachkultur der Designwelt, sondern um eine akademische Kultur, die persönliche Entwicklungen ermöglicht und fördert.

Abstrakte Illustration schwarz, weiß und braun mit schemenhaften Gesichtern

In Anknüpfung an diese studentische Episode möchte ich darüber sinnieren, wie wir eine solche Kultur etablieren können – eine Kultur, die den Wert des Zufalls erkennt und den Mut zur Weiterentwicklung fördert. Auch wenn sich dieser Text auf die Fachkultur Design bezieht, strebt er eine Generalisierung für alle Fachkulturen und Fachbereiche an unserer Hochschule an. Jede „geistige Kost“ ist in den verschiedenen Fachbereichen anders, aber die Grundstruktur bleibt gleich: Es geht darum, einen sicheren sozialen und pädagogischen Rahmen zu bieten, der fachliche und pädagogische Impulse in diesem Safe Space zur Verfügung stellt. Diese Überlegungen sollen Kolleginnen und Kollegen sowie Studierende inspirieren und dazu ermutigen, vermeintliche Fehler als Chancen zu betrachten und die Möglichkeiten des Experiments voll auszuschöpfen.

In diesem Artikel deute ich dazu den Begriff „geistige Kost“ an und erläutere den Wirkungszusammenhang zwischen der persönlichen Identifikation mit dem Studium und der daraus resultierenden akademischen Sozialisation. Dabei ist die „Community of Practice“ (Wenger, 1998) ein zentraler Begriff, um daraus den „Gemeinsinn“ abzuleiten. Abschließend leite ich exemplarisch Praxisanwendungen im Design und so die Überlegung ab, warum wir uns über Jahre mit unserer fachlichen und persönlichen Entwicklung beschäftigen sollten.

Die Fachbereichskultur verstehe ich als „geistige Kost“, die mit großer Verantwortung und fokussierter Zielsetzung kuratiert sein will. Dieser Text ist daher auch ein persönlicher Appell an alle – Studierende wie Kolleg:innen. Denn ich möchte die Frage nach Sinn, Zweck und Bedeutsamkeit als Fundament der Fachbereichskulturen ins Zentrum stellen.

Unsere Identifikation in der akademischen Sozialisation

Soziales Lernen, das durch die Interaktion mit anderen und die Beobachtung von Verhaltensweisen in sozialen Kontexten erfolgt, ermöglicht es Individuen, sich an die Normen und Werte der akademischen Gemeinschaft anzupassen und diese zu verinnerlichen (Popp, 2010; Valamis, o.J.). In der akademischen Umgebung wird die Identität durch kontinuierliche Reflexion und den Austausch mit Peers und Mentoren geformt, was zu einer stärkeren Selbstwahrnehmung und einem höheren Selbstwert führt (Fischer & Bauer, 2013). Die Integration in die akademische Gemeinschaft fördert nicht nur das fachliche Wissen, sondern auch die sozialen Kompetenzen, die für eine erfolgreiche akademische Laufbahn unerlässlich sind (Pfeiffer & Reuß, 2008). Diese akademische Sozialisation dazu bei, dass Individuen ihre Rolle innerhalb der akademischen Gemeinschaft finden und sich als Teil dieser Gemeinschaft identifizieren, was wiederum ihre persönliche und berufliche Entwicklung positiv beeinflusst (Reiners, 2005).

Der „Gemeinsinn“, dieses Gefühl der Zugehörigkeit und Identifikation mit einer Gemeinschaft, wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst:

  • Häufige und bedeutsame Interaktionen zwischen den Mitgliedern stärken unser Zugehörigkeitsgefühl (McMillan & Chavis, 1986).
  • Anerkennung und Wertschätzung unserer Beiträge fördern unser Engagement und unsere Bindung an die Gemeinschaft (Blanchard & Markus, 2004).
  • Gemeinsame Ziele und Werte schaffen eine gemeinsame Identität und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass wir in der Gemeinschaft Erfüllung finden (McMillan & Chavis, 1986).

Eine solche Community of Practice (CoP) ist eine praxisorientierte Gemeinschaft, in der wir durch den Austausch von Wissen und Erfahrungen voneinander lernen. Eine CoP basiert auf den Prinzipien der Selbstorganisation und Freiwilligkeit und zielt darauf ab, praktische Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen (Wenger, 1998).

Der Fachbereich als Garten 

Der Begriff der „geistigen Kost“ spielt in diesem Kontext eine entscheidende Rolle, da die intellektuelle Herausforderung in einem selbstorganisierten Fernstudium als besonders anspruchsvoll zu betrachten ist. Die Selbstwirksamkeit stellt das zentrale Prinzip dar, welches der Organisation unserer pädagogischen Angebote und Strukturen zugrunde liegt. Die Metapher des Gartens und des „Hegens und Pflegens“ ist ebenfalls dem Community of Practice-Konzept von Wenger entnommen (ebd.). Für die Praxisgemeinschaften ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Infrastruktur gepflegt wird, damit ein Austausch von Wissen und Erfahrungen gewährleistet ist. Um diese gegenseitige Wirkung eines Ökosystems mit eigenen Grenzen und Regeln zu veranschaulichen, wählt er den Garten als Metapher.

In diesem Garten sind im curricularen Bereich die Tutorien bzw. die Lehrveranstaltungen eine formelle Struktur: Das Gruppenprinzip unserer kleinen, familiären Gruppen ist hier ein Kernkonzept, um diese praxisorientierte Gemeinschaft zu praktizieren. Dies ist nicht nur im Marketing eine Alleinstellung, sondern vor allem pädagogisch ein Grundprinzip. Im Fachbereich Gestaltung und Medien gibt es das Format der „Camps“, das sind semesterweise Angebote eines Workshopwochenendes in Präsenz. In der Technik gibt es ebenfalls ähnliche Konzepte wie Labore, die sogar als Pflichtveranstaltung im Curriculum eingebunden sind.

Demgegenüber wachsen und gedeihen in diesem Garten auch außercurriculare Angebote, die eine aus meiner Sicht noch wichtigere Stellung in den Angeboten unserer Hochschule ausmachen. Studierende registrieren sehr genau, ob etwas im normalen Programm liegt oder darüber hinaus ein besonderes Angebot ist. Das liegt sicherlich daran, dass die Lehrenden diese Angebote mit einer anderen Ambition platzieren. Im Fachbereich Gestaltung und Medien ist das der semesterweise angebotene Pitch, der über die Studiengänge hinweg eine reale Aufgabenstellung bearbeitet und interdisziplinäre Arbeit ermöglicht, der #textzummonat oder das DesignerYoga.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass sowohl curriculare als auch außercurriculare Angebote essenziell sind, um einen sicheren sozialen und pädagogischen Rahmen zu schaffen, der fachliche und pädagogische Impulse in einem „Safe Space“ zur Verfügung stellt. In diesem Garten stellen curriculare wie außercurriculare Elemente die geistige Kost der Fachbereichskultur dar und unterstützen die persönliche und berufliche Entwicklung.

Die Liebe zum Fach als gemeinschaftliche Basis

Das abschließende Kapitel konzentriert sich auf die Werte Solidarität und Liebe und deren Bedeutung für unsere Beziehungen innerhalb der Fachbereichsgemeinschaft. Es geht darum, unsere gemeinsamen Werte auszuhandeln, in Diskussionen zu verfeinern und in den Alltag zu integrieren. Diese induktive Aushandlung braucht einen pädagogischen Safe Space – einen sicheren Raum, der von der Logik industrieller und kapitalistischer Produktion entkoppelt ist. Diese pädagogische Sicherheit ist notwendig, um Experimente durchzuführen und Kränkungen zu minimieren. Das Ego kann hinderlich sein, da es hohe Ansprüche und Leistungsdruck erzeugt. Um Handlungs- und Möglichkeitsräume zu eröffnen, muss jedes Experiment möglich sein. Es geht nicht primär um das Endprodukt, sondern um den Erfahrungsprozess und die Erkenntnisse, die sich erst mit zeitlicher Verzögerung einstellen.

Mein Wunsch und Appell ist es, die Gelassenheit der vergleichsweise langen Studienzeit zu nutzen, um die Beziehungen zwischen allen Akteuren zu entwickeln und zu vertiefen. Die Liebe zum Fach schließt die Zugewandtheit zu den Kolleginnen und Kollegen ein.

Das Zeitgeschenk des Studiums sollten wir nutzen, um abseits von Leistungsdruck inneres Wachstum zu fördern. Solidarität, Liebe und Empathie sind keine romantischen Konzepte, sondern Mittel zum Zweck für den Aufbau, die Stärkung und Konsolidierung einer dezentralen, digitalen Lerngemeinschaft.

 

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Ilustrationen: Menili Litzel

Ilustrationen: Menili Litzel

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