Wie soziale Energie im Fernstudium entsteht

Text: Prof. Dr. Andreas Ken Lanig

Anna, eine fiktive Persona unserer Hochschule, ist erschöpft: Sie kann sich nicht vorstellen, zusätzlich zur Arbeit und Familie an einem freiwilligen Workshop an unserer Hochschule teilzunehmen. Es ist Freitagnachmittag, das Sofa lockt unwiderstehlich. 

Aus einem plötzlichen Impuls heraus entscheidet sie sich spontan, das Wochenende zu investieren. Sie kommt voller Energie und Motivation zurück. Wie ist das möglich? Wie kann Energie entstehen, wo keine ist? Warum versagt unsere physikalische Metapher der Energie, wenn es Situationen gibt, aus denen wir mit Schwung und sogar nach einer durchtanzten Nacht voller Elan an die Arbeit gehen?

Im Fernstudium scheinen die Herausforderungen groß: räumliche Distanz, fehlende direkte Interaktion und die Notwendigkeit der Selbstorganisation. Doch wo Herausforderungen lauern, schlummern auch Potenziale. Das Phänomen, das wir hier betrachten, ist die „soziale Energie“ (Rosa 2024); diese alltägliche Erfahrung eines erbaulichen Gesprächs, einer inspirierenden Begegnung und eines ästhetischen Impulses kennt wohl jede:r. Interessant ist jedoch die philosophische Begründung: 

Der Philosoph Bernhard Waldenfels beschreibt diesen Prozess der Ideenfindung als „Diastase“ (Waldenfels 2002 und 2011): ein Riss, der im Spannungsfeld zwischen dem Eigenen und dem Fremden entsteht. Das Eigene repräsentiert unsere bekannten Denkweisen und Erfahrungen, während das Fremde das Neue, Unbekannte und Unerwartete verkörpert. Die Gleichzeitigkeit dieser beiden Vorgänge, das Entstehen des Neuen und Fremden im Eigenen bezeichnet diesen physikalisch paradoxen Vorgang.

Soziale Energie entsteht in diesem Spannungsfeld zwischen dem Eigenen (das sind Annas bereits vorhandenes Wissen und Fähigkeiten) und dem Fremden (den neuen Impulsen und Perspektiven durch die Interaktion mit anderen). Diese Energie beflügelt Annas Kreativität und führt zur Entwicklung einer Energie, die vorher scheinbar verschwunden war. Der Kern der sozialen Energie (Rosa 2024) ist, dass individuelle Ideen mit den kollektiven Erfahrungen und dem Wissen einer (Lern-)Gemeinschaft verbunden werden.
 

Das Fernstudium bietet somit ein Umfeld für die Entfaltung sozialer Energie und die Ideenfindung:

  • Diversität: Die Zusammensetzung der Lerngruppe aus Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen fördert den Austausch und die Entstehung neuer Ideen.
  • Interaktivität: Digitale Tools und Plattformen ermöglichen eine zeit- und ortsunabhängige Interaktion und Zusammenarbeit. Noch stärker im Präsenzworkshop wie im Beispiel.
  • Autonomie: Die Freiheit und Verantwortung, den eigenen Lernweg zu gestalten, erfordert und fördert kreatives Denken und Problemlösungskompetenz.

Soziale Energie ist ein wichtiger Faktor im Fernstudium. Durch die aktive Teilnahme an sozialen Interaktionen und den Austausch mit anderen Studierenden können Studierende wie Lehrende ihre Kreativität entfalten, innovative Lösungen entwickeln und ein erfüllendes Studienerlebnis gestalten.

In diesem Sinne: Nutzt die Möglichkeiten des Fernstudiums, um neue Perspektiven zu entdecken, mit anderen in Kontakt zu treten und die Kraft der sozialen Energie zu nutzen!
 

Literatur:
Rosa, Hartmut (2024, 11. Januar): Was ist soziale Energie? Die Zeit (3). 
Waldenfels, Bernhard (2011). Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden (Band 1). Suhrkamp
Waldenfels, Bernhard. (2002). Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt, Suhrkamp
 

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Illustrationen: Antje Schulz

Illustrationen: Antje Schulz

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