Nutzlose Entschuldigungen: Entdeckung einer neuen Maßeinheit
Text: Prof. Dr. Kathrin Rothenberg-Elder
Mein heutiger Impuls für Achtsamkeit beginnt mit einem großen Ärgernis:
Vor kurzem saß ich in einer Besprechung. Es war eine lange und komplexe Besprechung. Ich wurde zunehmend gereizter. Nicht wegen Remote Fatigue. Die nE/min.-Rate war auf dieser Sitzung wieder extrem hoch und riss alle Grenzwerte.
NE/min ist eine von mir erfundene Maßzahl und bezeichnet die pro Person pro Minute ausgestoßenen nutzlosen Entschuldigungen. Um es klarzustellen: Es geht nicht darum, mich zu entschuldigen, wenn ich jemanden Kaffee auf den Schoß geschüttet habe (was bekanntermaßen virtuell sowieso nicht geht) oder wenn ich ihm oder ihr, was ja virtuell durchaus mal passiert, aus Versehen ins Wort falle. Es geht um diese völlig nutzlosen Entschuldigungen – die übrigens kein Zeichen von achtsamer Demut und heiligenmäßiger Bescheidenheit sind.
Wie: „Ich will ja nur beitragen, das ist ja vielleicht gar nicht so wichtig, aberr es tut mir leid, wenn ich das hier sagen muss, vermutlich tut es nichts zur Sache...” die Sammlung könnt ihr sicher fortsetzen. Bei Häufung kann es mich richtig anekeln, wie andere sich in aller Öffentlichkeit niedermachen und mich als Zeugin missbrauchen. Hinter diesen Entschuldigungen erkenne ich weder die Person noch den Inhalt, den sie in gewundenen Worten rüberbringen will – oder nicht, – was weiß ich, bevor ich überhaupt den Inhalt begriffen habe, hat sie sich schon dreimal entschuldigt. Und ich ärgere mich so, dass ich ihren Ausführungen nicht mehr gut folgen kann.
Das hängt nicht allein am Status. Hey Leute, ich weiß es, ich arbeite als Prof an einer Hochschule! Zwischen mir und den Studierenden ist ein gewaltiger Hierarchieunterschied – überkommen hierarchisch und tatsächlich auch teilweise vom Wissen. Aber die Entschuldiger:innen kommen aus allen Schichten der Hierarchie. Es scheint so ein Persönlichkeitsding zu sein. Liebe Leute: Wir lernen doch alle dazu – bitte haut nur die Entschuldigungen raus, die es wirklich wert sind.
Es ist obszön! Ich will niemanden zuschauen beim Kleinmachen. Nicht, dass Leute irgendwas falsch machen würden und dann großsprecherisch und breitbeinig locker sagen: Hey Alte, sorry ... Das sind nicht die Entschuldiger:innen, die ich meine.
Ich habe auch eine Menge schon dagegen probiert. Wertschätzung und nett sein oder mich selber mal klein machen (wobei ich das nicht sehr gerne tue). Das hat alles nichts geholfen. Und weiter tropft meine Zeit, weil irgendjemand mal wieder irgendeinen schlechten Tag hat oder denkt, weil sie eine Frau ist oder weil er ein Studierender ist, dass das einfach dazu gehört. Leute, ich habe den Staub vor meinen Füßen lieber für mich und meine Schuhe und nicht dafür, dass ihr euch da reinwerft! Ich habe die Tradition des Erniedrigens genauso geerbt wie ihr und es ist an euch, aufzustehen.
Sich ständig zu entschuldigen dafür, was man für einen Beitrag leisten möchte oder was für einen Beitrag man nicht leisten würde ... Hat jemand einmal mitgezählt, wie viel Zeit das kostet – diesen ewigen masochistischen Entschuldigungen zuzuhören? Das ist auch meine Zeit! Ich glaube, dass mindestens ein Drittel dieser komplexen Diskussionen dafür draufgehen. Einfach für Entschuldigungen, bevor man irgendetwas sagt, widerspricht oder darauf eingeht.
Ich weiß, es geht auch jede Menge Zeit für etwas anderes drauf, für Witze machen und Rumscherzen und so. Aber das ist zumindest erfreulicher Zeitvertreib, während ich es hasse, wenn sich mal wieder jemand klein macht und mich in irgendeine komische Höhe verdammt. Ich hab Höhenangst! Verflixt.
Wir wollen Studierenden Brücken zum Erfolg bauen. Wir wollen sie stärken, sie dabei unterstützen, das zu suchen und zu entwickeln, was in ihnen steckt. NEs halten uns davon ab. Sie stehlen uns Zeit, die ich persönlich, zum Beispiel, lieber kichernd in der Ecke verbringen würde. Sie geben denen ein schlechtes Gewissen, die vielleicht einfach hinausgehen wollen in die Welt und sehen wollen, wie ihre Ideen und Fragen und Vorschläge aufgenommen werden. Teilt achtsam eure tollen Ideen, ohne sie vorab kleiner zu reden.
Lasst uns neue Indices erfinden. Etwa den tI/min., tolle Ideen pro Minute. Oder: G/min., Gelächter pro Minute. Lasst uns mit unserem Mut und unserer Heiterkeit einander anstecken. Und unsere Entschuldigungen für die echten Fehler aufbewahren.
Lasst uns an einem Tisch sitzen. Auf einer Ebene. Und voneinander lernen, wie es sich gehört in einer Hochschule und im Leben und überhaupt.
PS: Die Frau, die für mich die erste Inspiration für diesen Artikel war, Maria O., hat diesen Artikel übrigens zum Anlass für eine steile Lernkurve genommen und entschuldigt sich nun nur noch aus gutem Grund.

Illustration: Antje Schulz