Mein Schuh – mein Selbst? Eine Erkundung auf Bodennähe.

Text: Prof. Dr. Andreas Ken Lanig /// Illustrationen: Elena Linge

Mein Schuh – mein Selbst? 
Eine Erkundung auf Bodennähe.

AL: Danke, dass ihr euch die Schuhe dieses „Klamotten-Interviews“ angezogen habt. Wir sprechen heute über lange Bärte und kurze Röcke. Alter vor Schönheit, Tilo: Welche Schuhe führten dich zu und durch die Hochschule?

TS: Cowboystiefel. Und natürlich das rote Hemd, das ein wichtiges Erkennungsmerkmal ist. Ich bin sicher kein Fashion Victim, bin aber schon der Meinung, dass Kleider auch im akademischen System Leute machen. Es geht also um Positionierung – wie man unter den grauen Anzügen wahrgenommen wird.

AL: An die Boots in der Senatssitzung erinnere ich mich. Stephan, wenn ich dich an einen humorvoll von dir gemeinten Spruch zitieren darf: „Wer keinen Bart oder keinen Schlips trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“, frei nach Karl Lagerfeld. Was sind deine Anforderungen an die Kleidung?

Kleidung und Schutzfunktion

SC: Ich bin Sicherheitsmanager, ich denke immer zuerst an den Schutz. Ich sehe die Funktion an erster Stelle – etwa bei dem alltäglichen Schutz vor Sonne und Witterung im Allgemeinen oder z. B. bei der Freiwilligen Feuerwehr, da hatten wir gestern erst eine Übung. Hier geht es um die Schutzfunktion. Aber funktional heißt auch, dem Gegenüber eine Einordnung zu geben, Autorität (z. B. Polizei) oder einen bestimmten anderen Status zu signalisieren.
Grundsätzlich fühle ich mich am wohlsten, wenn ich ein Jackett anhabe. Da kann man kaum was falsch machen. Relativ flexibel bin ich beim Thema Krawatte. Aber eigentlich nie ohne, was mit dem Stil unseres Bundeskanzlers im Moment wieder in die Debatte geraten ist. Aber ich sitze hier mit Krawatte und bin in diesem Punkt als BWLer ganz traditionell.

AL: Stellst du damit Konformität her?

Konformität vs. Individualität

SC: Ja. Beim Fußball, der Feuerwehr, beim Militär – es geht um Zuordnung. Vermutlich geht es in der Kreativindustrie umgekehrt um Abgrenzung.

TS: Klar, es geht um Positionierung. Ich möchte aber auf deinen Begriff Schutzfunktion zurückkommen. Eine Wirtschaftsanwältin hat mir erzählt, dass sie im Beratungsunternehmen als Erstes gelernt hat, keine roten Schuhe anzuziehen, weil sie sonst als „die mit den roten Schuhen“ erkennbar ist. Aus psychologischer Sicht geht es also um Schutzfunktion, wenn jemand Konformität „in der Herde“ herstellen will. Man kann also sagen, mit der Business-Uniform will ich meine eigene Austauschbarkeit darstellen – der Kunde soll gar nicht bemerken, dass hier individuelle Personen arbeiten.

Aquarellillustration: Professor Tilo Staudenrausch (TS) sitzt entspannt mit Buch, rotem Hemd, Jeans und braunen Cowboystiefeln vor einer Bücherwand; zu seinen Füßen wuseln weiße Schafe, links eine Atlas-Statue mit rotem Umhang, im Hintergrund eine Reihe uniform gekleideter Männer in grauen Business-Anzügen.
Prof. Staudenrausch thront im Sessel, Cowboystiefel lässig übereinander, während hinter ihm graue Anzüge Spalier stehen und Atlas im roten Mantel die Welt wuchtet – Nonkonformität trifft Konformität, ganz wie im „Klamotten-Interview“.

SC: Als ich bei uns im katholischen Kleve Fußball gespielt habe, habe ich auch den Hinweis bekommen: Rote Schuhe darf nur der Papst. Damit möchte ich darauf hinweisen, dass mit Kleidung Privilegien verdeutlicht werden.

TS: Sicher, die Kirchengeschichte ist mit Purpur, Gold und Violett voll mit diesen Insignien. So verhält es sich wohl auch heute mit dem dunkelblauen Anzug. Bei meinen Klamotten reizt mich das Ambivalente: Auf der einen Seite der Rockabilly-Prof und im Hintergrund die Bücher. Einerseits die akademische Folklore – Professoren vor ausladenden Bücherwänden. Und auf der anderen Seite Rockabilly: das arbeiterhaft Einfache englischer Dockarbeiter. Vor allem aber muss es authentisch sein. Ich bin viel auf Rockabilly-Conventions und dort merkt man sofort, wer verkleidet ist.

SC: Sicher, Geschäftsführer von hippen Unternehmen betonen ihre Positionierung dann auch mal mit ausgewaschenen Jeans, um das Untraditionelle zu unterstreichen. Etwa Steve Jobs, der immer so einen schwarzen Rollkragenpullover getragen hat. Das finde ich persönlich interessant: Warum gerade schwarz? Ist das im Design besonders elitär? Ich hätte eher etwas Knallbuntes erwartet …

TS: … es geht um Einfachheit, um Schlichtheit, um Reduktion.

AL: Meine Herren, eine Steilkurve: Wir sehen hier den Rebellengott Atlas. Er hat eine Art Mantel und trägt bekanntermaßen die Welt …

Statussymbole und Markenführung

SC: … als Sicherheitsmanager sage ich: Ziemlich schutzlos …

TS: … bei mir wäre das ein roter Mantel gewesen. Aber ob die antiken Statuen bemalt waren, weiß man nicht …

SC: … man weiß zumindest, dass Kleidung als solche noch viel älter ist, 300 000 Jahre und noch älter. Das kann man anhand von Säuren feststellen, die beim Gerben entstehen. Insofern kann man wohl ein Urbedürfnis interpretieren, das über die Schutzfunktion hinaus eine symbolische, schmückende Funktion gehabt haben muss.

TS: Ich komme ja aus dem Schmuckdesign und kann bestätigen, dass nach der Funktionalität von Kleidung ziemlich schnell und direkt das Herstellen von Schmuck folgt …

SC: … das ist ein ganz ursprüngliches Bedürfnis nach Distinktion. Und auf den Märkten ist wichtig, dass es dabei eine geplante Obsoleszenz gibt: Diese Statussymbole wollen regelmäßig erneuert und erweitert werden. So funktioniert die Luxusbranche – diese Symbole haben also ein Verfallsdatum.
Apropos Statussymbole: Gerade, wenn ich für das Prüfungsamt unterwegs bin, ist es für die Studierenden und Mitarbeitenden sicherlich auch ein Signal, wenn das Äußere die operative Rolle unterstreicht, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit wiedergibt oder zumindest nicht irritiert.

TS: Stephan, da muss ich dich enttäuschen. Ich bin ebenfalls für das Prüfungsamt unterwegs. Etwa bei Kooperationspartnern zum Kolloquium – da komme ich schon mal mit Lederjacke und Motorrad. Das können wir von der Markenführung her einordnen: Marken im Business-Kontext werden immer persönlicher. Wir reden heute weniger über den Tesla, sondern über Elon Musk. Und diese Personen repräsentieren dann das Unternehmen.

SC: In diesem Sinne kann man die Brücke zu Watzlawick schlagen: Man kann nicht nicht kommunizieren. Über diese Gesten wird Unternehmenskommunikation betrieben. Insofern sind wir dann doch wieder bei der Funktion. Aber jeder muss sich wohl fühlen. Und ich glaube, wenn ich im Prüfungsamt, mit meinen BWL-Studierenden oder den Sicherheitsmanagern in kurzen Sachen erscheinen würde … ich glaube, das würde ziemlich orientierungslos wirken. Ihr seid im Fachbereich Gestaltung und Medien mit den Studierenden öfter per du – das ist offensichtlich eine andere Welt.

Funktionalität, Kreativität und Knopf dran

TS: Ich denke auch, dass sich darin ein Gesamtverständnis ausdrückt. Wir verstehen Vorlesung und Unterricht als eine gemeinschaftliche und hierarchiearme Arbeit. Und davon abgesehen: Die Krawatte würde mir niemand ernsthaft abnehmen.

SC: Das ist wohl der wesentliche Unterschied: Wenn es um eine Funktion geht – ich denke gerade an die gestrige Feuerwehrübung – dann geht es um schnelle Abläufe und Funktionalität. Und diese Konformität sorgt wiederum dafür, dass diese Abläufe reibungslos funktionieren. Wenn es aber um Kreatives und das Neue geht, geht es um Individualität.

AL: Wobei Konformität und Funktionalität das Neue nicht per se ausschließen. Meine Herren, ich bedanke mich für dieses schöne „Klamotten-Interview.“

Schwarz-weiße Bleistiftskizzen: mehrere Köpfe der Interviewteilnehmer Prof. Dr. Andreas Lanig (AL), Prof. Dr. Stephan Convent (SC) und Prof. Tilo Staudenrausch (TS) mit lockeren Notizen wie „Schutzlosigkeit ohne Kleidung“ und „Wer den Bären erlegt, darf das Fell tragen“; daneben angedeutete Figuren und ein Block Papier – spontane visuelle Notizen zum Interview.

„Backstage“-Überlegungen zur Illustration von Elena Linge:

Als ich die Illustration zum Klamotteninterview entwarf, gingen mir verschiedene Gestalten durch den Kopf. Ich setzte mich gleich mit einem Stift und Papier dazu und zeichnete ein Wimmelbild, während das Gespräch lief. Ich fragte mich, ob Stephan Convents Leben sich etwas verändern würde, wenn er jeden Tag mit roten Schuhen und auf einer Harley Davidson zu seiner Arbeitsstelle erscheinen würde… Ich tat mich schwer ihn zu zeichnen, denn was er sagte wirkte auf mich korrekt, richtig, sauber, NORMAL. Ich sah mich im Raum um und habe alle meine Bilder, Zettel und Lichterkette an der Wand weggedacht. Es ist CLEAN. Nichts blieb übrig, woran mein Blick hängen bleiben und es betrachten könnte. Ich entschied mich für eine Darstellung als eine Reihe von gleichen Gestalten oder Tapete. Prof. Tilo Staudenrausch auf einem Ledersofa sitzend, lässig ein Buch (als Symbol für Wissen) in der Hand. Was sagen schon die Cowboystiefel und rotes Hemd über den akademischen Grad aus? Ich sah vor mir in der ersten Linie keinen Professor in seinem trivialen Auftritt, sondern eine originelle Persönlichkeit, derer Aussehen nicht nur ausgefallen, sondern auch authentisch ist. Die Kleidung ist auch eine Art sich zu äußern, sich in der Gesellschaft zu positionieren. Wenn alle so markant und provakant wie Tilo Staudenrausch wären, würde er vielleicht in der bunten Masse untergehen. Es muss Kontrast geben, einen Farbtupfer.

 

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Business-Blau vs. Rockabilly-Rot: SC mit Krawatte und Aktenmappe, TS mit Hosenträgern und Westernboots – zwei Stilwelten auf einer Couch, doch ein Gespräch.

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