„Das Lächeln, das du aussendest, kehrt zu dir zurück.“
Text: Astrid Hilbert
Ich öffne einen Glückskeks: „Das Lächeln, das du aussendest, kehrt zu dir zurück.“ Aber was, wenn mir gar nicht nach Lächeln zumute ist? Brauche ich dann nicht erst recht ein freundliches Lächeln, das mir zugekehrt ist? Wer sieht denn eigentlich, ob ich lächle? Schauen wir den Menschen überhaupt noch ins Gesicht oder vor lauter Eile nur noch auf die Funktion, die auf dem Namensschildchen am Revers steht? Es ist noch gar nicht lange her, da mussten wir fast überall Masken tragen. Da sah man ohnehin kaum noch ein Lächeln. Und ist nicht sowieso unser Lächeln oft die allergrößte Maske?
Beim Einkaufen fragt mich die Kassiererin regelmäßig erwartungsvoll lächelnd (obwohl sie mich mit den Jahren wirklich kennen sollte): „Sammeln Sie Punkte?“ – „Nein.“ (Bin ich das Sams?)
In einer Vorstellungsrunde werde ich angelächelt und rhetorisch gefragt: „Vielleicht möchten Sie gern anfangen?“ – „Nee. Möchte ich nicht“. Ich bin grad erst gekommen und noch gar nicht richtig wach. Außerdem stelle ich mich ohnehin nicht gern in Gruppen vor. Ich will nicht anfangen. Aber ich sollte! Ganz offenbar!
Auch mein Zahnarzt lächelt mir aufmunternd zu: „Na, so schlimm war‘s doch gar nicht, oder?“ – „Doch! Es war schlimm! Sehr schlimm sogar“, möchte ich am liebsten antworten. Aber will das überhaupt jemand hören? Wahrscheinlich nicht. Zu viele Fragen am Tag sind mit einem Lächeln verziert; sie scheinen rein rhetorisch und implizieren schon die Antwort:
„Wären Sie so lieb, kurz zur Seite zu gehen“, drängelt sich eine kräftige Dame mittleren Alters vor der Bushaltestelle an mir vorbei. Das ist doch keine Frage! Natürlich bin ich genau „so lieb“. Aber bin ich das nur, wenn ich zur Seite gehe? Warum geht sie nicht einfach um mich herum? Ich möchte doch auch in den Bus.
In meinem Erststudium lernte ich noch, wir würden in einer „Multioptionsgesellschaft“ leben. Aber sind die vermeintlichen Optionen auch echte Entscheidungsmöglichkeiten, oder sind sie in Wahrheit bloß Erwartungen, die uns vorgeben, was wir zu tun haben? Die uns mit einem Lächeln serviert werden!
Ich arbeite im psychologischen Team einer Rehaklinik: Täglich habe ich Menschen vor mir sitzen, die zweifelsfrei vom Leben gezeichnet sind und die mir lächelnd von ihren Schicksalsschlägen berichten, während in mir selbst das Lächeln beim Zuhören oft fast erstickt. Diese Menschen haben allzu häufig kaum noch Kontakt zu ihren Emotionen. Sie lächeln einfach. Sie lächeln, weil alle lächeln. Sie lächeln, um nicht aufzufallen. Sie lächeln, weil es von ihnen erwartet wird. Sie lächeln, weil sie nicht mehr daran glauben, dass sich irgendwer dafür interessiert, was sich hinter ihrem Lächeln verbirgt. Wer lächelt, fällt nicht auf. Dem werden auch keine unangenehmen Fragen gestellt. Aber welche Bedeutung hat dann noch ein Lächeln? Brauche ich dann wirklich noch ein Lächeln, das zu mir zurückkehrt? Brauche ich nicht viel dringender einen „Augenblick“? Jemanden, der mich sieht. Jemanden, der sieht, dass ich NICHT lächle. Nachdenklich öffne ich einen weiteren Glückskeks: „Falls du auf ein Zeichen gewartet hast: HIER ist es“…
