Impulse für Achtsamkeit: Der vergessene Ruhetag
Text: Prof. Dr. Kathrin Rothenberg-Elder /// lllustration: Max Braun <max@designandcommonsense.com>
Ich bin von der Seite meiner Großeltern her baptistisch erzogen worden. Das bedeutet in dieser Hinsicht: bibeltreu. Die zehn Gebote, etwa, waren im Leben meiner Großeltern fast so gegenwärtig wie die in Stein gehauenen Tafeln, die Moses vom Berg trug.
Eines der zehn Gebote bestimmt bis heute meinen Alltag: Die Heiligung des 7. Tages. Ich will niemanden mit einem Vortrag darüber langweilen, wie häufig dieses Gebot in der Bibel vorkommt, und auf keinen Fall in die äußerst ermüdende Diskussion einsteigen, wie es dazu kam, dass dieser Tag für Juden und Jüdinnen am Samstag und für die meisten Christ:innen am Sonntag begangen wird… für meine Großeltern war es, in dieser Hinsicht übrigens theologisch korrekt, ein entscheidendes Gebot.
Schon am Samstagabend wurde auf den Sonntag eingestimmt: Gab es noch etwas in der Wohnung zu putzen, wurde es spätestens samstags erledigt, meine Großmutter wusch und lockte sich die Haare, die feinen Kleider wurden ausgewählt und noch einmal kontrolliert. Dann am Sonntag gab es Gottesdienst, ein mehrgängiges Essen und oft einen Ausflug, für den mein Großvater, der nie einen Führerschein machte, sorgfältig den Fahrplan studierte.
Mein Großvater begleitete seine Ausführungen über die Wichtigkeit des Sonntags mir gegenüber mit diversen bedrohlichen Geschichten, etwa: Da hätte einer Tuberkulose bekommen, weil er den Sonntag nicht geachtet hätte. Mein Großvater ist noch in einer Zeit aufgewachsen, in der Tuberkulose eine wirkliche Gefahr darstellte. Obwohl seine Ausführungen ein bisschen wie aus der Zeit gefallen wirkten, beeinflussten sie mich. Mein Vater, sein Sohn, sah das natürlich komplett anders, arbeitete oft an Sonntagen, putzte oder schrieb Gutachten. Und zog mich immer wieder in seine Projekte mit hinein: das gemeinsame Schlauchboot zu reinigen, den Keller aufzuräumen oder, etwa, den Garten auf Vordermann zu bringen. Das war mir besonders peinlich, da wir in einer katholischen Nachbarschaft lebten, in der am Sonntag in anderen Gärten eine merkwürdig dichte Sonntagsruhe herrschte.
Als ich erwachsen und damit endlich Herrin meiner eigenen Zeit war, begann ich, den Sonntag zu achten: komplett arbeitsfrei zu lassen, nicht zu putzen. Später: keine Mails zu lesen. Noch nicht einmal irgendwelche beruflichen Posts.
Das hat sich bewährt: am Montag stürze ich mich oft gierig auf die Arbeit, lese mich freudig durch Fachbücher, beginne Texte zu schreiben wie diese, erledige diesen ganzen Verwaltungskram mit frischer Energie.
Aber das ist nicht nur schön – das ist bis heute, nach über dreißig Jahren Übung, weiterhin sehr anstrengend. Und so nötig, dass ich mich diesem selbst gesetzten, selbst verinnerlichten Gebot weiter jeden Sonntag unterwerfe: nichts Berufliches oder Ehrenamtliches zu tun, nichts Nützliches, nicht aufräumen über das nötigste Maß hinaus, keine Wäsche machen, keine Projekte verfolgen außer sie machen mir einfach nur Spaß. Ein sinnloses Leben führen, ohne an Pflichten gebunden zu sein. Aber das bedeutet auch: Mich der schnellen Belohnung durch schnelle Ablenkungen zu entziehen und eben nicht mal schnell E-Mails lesen, nicht mal schnell noch irgendetwas tun. Einfach nur da sein.
Viele handhaben das offenbar anders. Sie scheinen den Sonntag... vergessen zu haben. Glücklicherweise nicht die DIPLOMA: keine Lehre, keine Anrufe, keine Posts. Ich freue mich sehr daran.
Aber wer bin ich, wenn ich einfach nur bin? Wer bin ich, ohne für meine Kolleg:innen da zu sein? Ich schalte nicht meinen Computer an. Ich rufe nicht mein E-Mail-Programm auf. Ich arbeite noch nicht einmal über ein paar inspirierende Notizen hinaus kreativ. In meinem Garten bleibt das Unkraut umgejätet, in meiner Wohnung der Boden ungefegt, die Wäsche ungefaltet. Ich lese, aber nicht in dieser stringenten, ergebnisfixierten Art, in der ich Fachliteratur durcharbeite. Ich spiele Musik, aber ich übe nicht. Ich mache noch nicht einmal Gymnastik.
Manchmal ist das großartig, ich bin ein sehr leistungsorientierter Mensch, vermute ich, und da ist die Erlaubnis zum Faulenzen wichtig, um überhaupt zu faulenzen. Oft aber fühlt es sich unbehaglich und ärgerlich an, zumindest für ein paar sehr lange Stunden. Natürlich kann ich mich mit Freunden treffen, mit meinem Mann oder meiner Familie etwas unternehmen oder einfach spazieren gehen. Aber oft bleiben trotzdem genug Stunden dazwischen für diese kratzige Muße, die reine leere Zeit. Mich nicht beweisen, indem ich mich Anstrengungen unterwerfe, in dem ich etwas schaffe, außer vielleicht mal ein ausschweifendes Spiel mit einem meiner Familienmitglieder oder Freunde. Aber auch das freie Spiel will immer wieder gelernt werden. Auch die Muße will, zumindest für mich, immer wieder gelernt werden.
Und deshalb unterwerfe ich mich ihr: Sonntag für Sonntag, seit Jahrzehnten. Um wieder ein Gefühl dafür zu bekommen dass ich letztendlich, abgesehen von meinen Leistungen, meiner Funktion, sogar abgesehen von denen, die ich liebe, denen ich in Freundschaft verbunden bin, einfach: ein Mensch bin.

lllustration: Max Braun