Vielstimmigkeit in der Lehrpraxis
Text & Illustration: Anne Lange
Als Studierende stehen wir vor der faszinierenden und herausfordernden Welt der akademischen Lehre. Der Aufruf zu „Vielstimmigkeit“ gewinnt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung, denn er appelliert an uns, unterschiedliche Meinungen und Perspektiven in Lehrveranstaltungen zu schätzen und zu fördern. Dennoch sehen wir uns zum Teil noch immer mit einer subtilen, aber mächtigen Barriere konfrontiert: Einer ideologischen Selbstbezüglichkeit des Lehrmaterials in Vorlesungen.
Es ist kein Geheimnis, dass manche Dozenten ihre persönlichen Überzeugungen stark mit ihren Lerninhalten verknüpfen. Dies kann zu einem akademischen Tabu führen, das den Raum für freie Diskussionen einschränkt. In einer Zeit, in der das Thema Vielstimmigkeit immer wieder Anklang in internen und externen Diskussionen findet, sollten Lehrveranstaltungen ein Ort sein, an dem verschiedene Ansichten nicht nur toleriert, sondern aktiv ermutigt werden. Nur so kann aus einer symbolischen Interaktion ein echter Austausch entstehen. Lehrende müssen nicht nur als Vermittler von Informationen, sondern auch als Initiatoren eines offenen und inklusiven Lernumfelds auftreten. Eine Atmosphäre, die von Respekt und Toleranz geprägt ist, fördert nicht nur die intellektuelle Entwicklung der Studierenden, sondern hilft ihnen auch dabei, sich als mündige und reflektierte Mitglieder der Gesellschaft zu entwickeln.
Die Virtualisierung von Lernprozessen stellt dabei eine zusätzliche Hürde dar. Der Kontakt zwischen Studierenden und Dozenten wird auf eine digitale Ebene verlagert, was die spontane Interaktion erschwert. Zahlreiche Störquellen werben um die Aufmerksamkeit der Studierenden – von Haushaltsaufgaben bis hin zu digitalen Unterhaltungsangeboten. Die Demokratisierung des Lernraums gerät dabei ins Hintertreffen. Zeitgleich verringert die physische Distanz das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Jeder Teilnehmende sitzt allein vor seinem Rechner, was das Gemeinschaftsgefühl vermindert. Dies kann zu geringer Motivation und sinkendem Engagement führen, da soziale Unterstützung und Gruppendruck, wie sie in einer physischen Lernumgebung vorhanden sind, fehlen. Entscheiden sich die Studierenden zudem dazu, ihre Kamera auszuschalten, tritt die Anonymität in der virtuellen Lernumgebung noch stärker hervor, was zu einer geringeren Verantwortlichkeit und Beteiligung führen kann. Das polare Gegenteil tritt paradoxerweise ein, sobald sie ihre Kamera einschalten: Plötzlich sehen sie sich sämtlichen Teilnehmenden gegenüber und jede Reaktion oder Nicht-Reaktion wird auf maximale Weise sichtbar gemacht. Das kann ein Gefühl der Überwachung mit sich bringen. Insgesamt wird der Druck auf die Studierenden stark erhöht, was ihre natürliche Interaktion einschränken kann.
Wenn jedoch sowohl Lehrende als auch Studierende aktiv daran arbeiten, diese Hindernisse zu überwinden, dann kann die Virtualisierung von Lernprozessen von einer isolierenden Barriere zu einer Chance für Weiterentwicklung werden. Die Aufgabe der Lehrenden ist dabei, nicht nur traditionelle Lehrmethoden in den digitalen Raum zu übertragen, sondern vor allem innovative Wege zu finden, um die demokratische Teilhabe in der digitalen Interaktion zu fördern – beispielsweise durch die Einbindung von Gastvorträgen, virtuellen Exkursionen und interkulturellen Projekten. Die Teilhabe der Studierenden kann über Diskussionsforen und Chats erfolgen, über interaktive Umfragen und über Abstimmungen beim Arbeiten und bei Präsentationen. In Peer-Teaching-Sessions können Studierende selbst zu Expert:innen für spezifische kulturelle Themen werden und in virtuellen Kaffeepausen kann das soziale Miteinander gestärkt werden. Nicht zuletzt sind digitale Räume und Programme zu erwähnen, in denen Studierende und Lehrende gemeinsam und zeitgleich zusammenarbeiten können.

Wichtig ist, dass Vielstimmigkeit in der Lehre nicht nur ein Schlagwort ist, sondern eine lebendige Realität. Was ist damit gemeint? Ein Beispiel: In einem Online-Seminar zur politischen Philosophie fordert der Lehrende zwar zur Diskussion auf, gibt den Studierenden, die von seinem Standpunkt abweichende Ansichten äußern, in seiner Reaktion auf die präsentierten Theorien jedoch das Gefühl ignoriert oder sogar kritisiert zu werden. Dies führt zu einer Atmosphäre der Zurückhaltung, in der die Studierenden es vorziehen, sich nicht zu äußern, wodurch der Diskurs versiegt. Ginge er hingegen aktiv auf die besagten Theorien ein und stellte sie als gleichwertig relevant zur Debatte, so würde dies neue Ebenen in der Diskussion eröffnen und weitere Studierende motivieren, sich zu beteiligen.
Ein solcher Wechsel der Perspektive durch die Integration verschiedener Stimmen ermöglicht den Studierenden schlussendlich auch, über das bloße Auswendiglernen hinauszugehen und sich eigenständig sowie kritisch mit der Thematik auseinanderzusetzen. Aber auch Lehrende profitieren vom Einbeziehen moderner Ansichten, denn damit bleiben sie am Zahn der Zeit. Die akademische Welt ist dynamisch und in ständigem Wandel; durch das Aufnehmen neuer Perspektiven in den Diskurs wird sichergestellt, dass die Lehre stets aktuell und relevant bleibt. Wenn zudem verschiedene Generationen ihre eigenen, spezifischen Erfahrungen, Werte und Perspektiven einbringen, kann dies den Lernprozess nur bereichern. Wir müssen das Lehrmaterial als fluide ansehen und nicht als unumstößliche Wahrheit.
Vielstimmigkeit fördert gegenseitigen Respekt und kulturelle Offenheit. In einer modernen, globalisierten Gesellschaft ist es unerlässlich, dass Studierende lernen, unterschiedliche Meinungen zu respektieren und zu schätzen. Es bereitet sie darauf vor, in einer facettenreichen Gesellschaft zu leben und zu arbeiten.
Es liegt nun an uns als Studierenden, die Stimme zu erheben, Hindernisse zu identifizieren und gemeinsam mit Lehrenden an einer Lehrpraxis zu arbeiten, die diesen Idealen gerecht wird. Nur so können wir eine dynamische, demokratische Lernumgebung schaffen, die uns alle voranbringt. Indem wir aktiv an diesem Prozess teilnehmen, tragen wir dazu bei, dass Bildung nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch ein Raum für kritische Reflexion, Toleranz und Wachstum ist und dass wir in einem Umfeld agieren, in dem die Vielfalt der Meinungen nicht nur toleriert, sondern als wesentlicher Bestandteil des akademischen Diskurses und der persönlichen Entwicklung geschätzt wird.


Illustrationen: Anne Lange