Vielstimmigkeit der Biologie: Sex im Salatkopf

Text: Dr. Carsten Kolbe

Mit der Vielfalt ist es so eine Sache. Vielstimmigkeit kann schwierig sein. Viele Menschen wünschen sich eine Klarheit. Hell. Dunkel. Mann. Frau. Groß. Klein. Und dann verallgemeinern wir gerne, weil es die Welt einfacher macht. Männer sind grösser als Frauen. Allerdings zeigen Forschungsergebnisse, dass männliche Säugetiere bei den meisten Säugetierarten nicht grösser als ihre Artgenossinnen sind. Man vermutet, dies hängt mit den fortgesetzten fehlerhaften Darstellungen in den Wissenschaften zusammen (Eickemeier 2024, S. 10). Man könnte auch sagen, was wir glauben, sehen wir. Es ist wichtiger, als das, was wir erkennen könnten, wenn … . 

Schwieriger als mit der Größe wird es mit dem Geschlecht. Schnell kommen da moralische Vorstellungen, Erfahrungen und Vorurteile ins Spiel. Und dann wird ja noch vom biologischen und sozialen Geschlecht gesprochen.

Oh, welche Vielfalt! Schon bei dem biologischen Geschlecht können wir Menschen uns fragen, meinen wir das „chromosomale Geschlecht”, das „hormonelle Geschlecht” oder das „Hebammen-Geschlecht”, welches sich an den sichtbaren Geschlechtsmerkmalen orientiert. Natürlich werden wir auch von unserer Umwelt, von der Gesellschaft, unseren Bezugsgruppen, Eltern usw. geprägt. Aber auch hier ist nicht alles so eindeutig, wie wir es uns vielleicht wünschen. 
Der pränatale Testosteronspiegel kann Auswirkungen auf die spätere Entwicklung der Geschlechtsidentität haben – also darauf, wie sich Mädchen und Jungen in bestimmte soziale Geschlechterrollen einnischen bis hin zur späteren sexuellen Orientierung (hormonelles Geschlecht). Und dann die moderne Umwelt: Weichmacher der Plastikindustrie (Endocrine Disruptors) stehen im Verdacht, männliche Amphibien und Nager zu verweiblichen – jedenfalls im Tierversuch (Voland, Eckart; Johannes, Johow 2012, o. S.). Menschenversuche gibt es nicht – nur allgemein so durch den täglichen Kontakt. Wer weiß es schon? Männlichkeit ade – weich wie ein Gummitier? 

Die Tier- und Pflanzenwelt leidet unter unserem Schadstoffeintrag. Sie ist jedoch in der Grundanlage pragmatischer als wir. In der Tierwelt macht es manchmal Sinn das Geschlecht zu wechseln. Man kann beides sein oder sich situationsabhängig entscheiden oder durch Umwelteinflüsse zum Wechsel gezwungen werden. Die Quintessenz bei all diesem ist in der Regel: Effizienz schlägt Moral. Selbst beim Klimawandel.

Streifenköpfige Bartagamen („kleine Drachen“, gern in deutschen Terrarien gehalten) können ihr Geschlecht je nach Temperatur ändern, sind also flexible Transgender-Echsen. Der Klimawandel hat Auswirkungen: „Innerhalb von ein paar Generationen könnte das weibliche Chromosom X komplett verschwinden. Dann gäbe es nur noch Männchen und Männchen, die später zu Weibchen geworden sind (Michael Bödekker, DRadio-Wissen-Nachrichten. In: Deutschlandfunk Nova Sendung 2015, o. S.).“ Aber nicht nur die Hitze, sondern auch die Größe lassen freudig den Geschlechterwandel jedenfalls in der Tierwelt tanzen.

Ach, wäre ich doch ein Fisch
Je nach Situation ist man als Fisch besser dran männlich zu sein. Sperma zu produzieren ist energetisch nicht so aufwändig wie Eier zu produzieren und größenunabhängiger. Also ein echter Vorteil – mal so als Mann auf lau zu machen. Ein männlicher Clownfisch hat dabei leider nun doch weniger zu lachen, als es erscheint – jedenfalls aus menschlich-männlicher Sicht. Nebenbei gesagt, er kann ja auch nichts für seinen Namen. 

Clownfische leben als Paar in der Gruppe. Bei dieser Art pflanzen sich jeweils die beiden größten Tiere fort, das zweitgrößte ist dabei das Männchen. Die Clownfische einer Gruppe mit der Körpergröße auf Rang drei und niedriger sind männlich und paaren sich nicht (Zoo Zürich 2022, o. S., o. A.).

Vor rund 15 Jahren gab es eine vielbeachtete Studie mit dem Titel „Not am Mann“ (Köhnert et. al 2007 in IWK 2017, S. 1ff). Damals wanderten überproportional viele junge Frauen aus den neuen Bundesländern ab. Die Aussichten für die jungen Männer, die in den wirtschaftsschwachen ostdeutschen Gebieten verblieben waren, gestalteten sich auf dem Arbeitsmarkt wie bei der Partnerfindung schwierig. Diese Perspektivlosigkeit führte zu großen sozialen Problemen. Damals hieß es „der doofe Rest bleibt“.. Konnten wir mit dem „Rang-drei-Problem” einfach nur nicht gut umgehen? Ein sozio-ökonomisches Paarungsproblem einsamer Korallenriffe – wie bei Bauer sucht Frau in Randregionen? Der Mann in strukturschwachen Regionen, der Clownfisch der Nation? Wo führt das hin?

Kommen wir wieder auf die Größe. Sie könnte ein Hoffnungsfaktor sein. Beim Menschen gibt es vermutlich vielfältige Faktoren, dass größere Personen eher eine Führungsposition innehaben und erfolgreicher sind (Genau, Hanna A.; Gerhard Blickle 2021, o. S.). 

Von dieser eher langfristigen Wachstumsperspektive zurück zum Hier und Jetzt. Die wirtschaftliche Situation bspw. in Brandenburg ist besser geworden. Männer brauchen nicht mehr mobiler, schlauer und größer werden. Der wirtschaftliche Aufschwung bringt Bewegung in das menschliche Aquarium. 

Von Fischen und Schnecken
Zurück zum Clownfisch. Wenn das Weibchen stirbt, übernimmt der bisherige Partner die weibliche Rolle. Das größte Männchen unter den verbleibenden Fischen kommt bei der Fortpflanzung zum Zug. „In einer biologischen Version der Geschichte von Findet Nemo würde sich Papa Marlin nach dem Tod seiner Frau Coral also einfach in ein Weibchen verwandeln”, so die Schlussfolgerung (Zoo Zürich 2022, o. S.). Womit manche Menschen wiederum ein Problem hätten ... .

Kriechen wir zum Schluss zurück auf das Land. Ist hier alles besser? Weit gefehlt! Nehmen wir als ein Beispiel die Lungenschnecken. Diese unmöglichen, verlotterten (!) Zwitter der sexuellen Vielstimmigkeit. Sie sind gleichzeitig männlich und weiblich. Schnecke wechselt also hin und her und bei Nichteinigung befruchten sich die Schneckchen gegenseitig. Unzucht im Salatkopf! Vielleicht sind die Schnecken deshalb, ob ihres ungehörigen Verhaltens, des Gartenzwerges Schrebergartenkönig größter Feind. 
 

Literaturverzeichnis
Deutschlandfunk Nova Sendung 2015: o. S. Männchen, Weibchen, egal. Sendung vom 02.07.2015. URL: deutschlandfunknova.de/beitrag/bartagamen-geschlechtswandel-bei-echsen Abruf 12.03.2024

Genau, Hanna A.; Gerhard Blickle 2021:  Wie sich die Körpergröße auf den Berufserfolg auswirkt. In: Forschung & Lehre, Karriere. Erschienen 15.01.2021. URL: forschung-und-lehre.de/karriere/wie-sich-die-koerpergroesse-auf-den-berufserfolg-auswirkt-3379 Aufruf 12.03.2024

Eickemeier, Patrick 2024: Säugetiere, Weibchen sind selten kleiner als Männchen: Tagesspiegel 13.03.2024, Wissenschaft S.10, Berlin
Köhnert, Steffen; Klingholz, Reiner, 2007: Not am Mann: Vom Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht? Lebenslagen junger Erwachsener in wirtschaftlichen Abstiegsregionen der neuen Bundesländer, Berlin-Institut, Berlin. In: Institut der deutschen Wirtschaft Köln, IWK Kurzbericht 03 / 2017, S. 1-3, Köln. URL: iwkoeln.de/studien/wido-geis-thoene-anja-katrin-orth-weniger-frauen-gehen-maennerueberschuss-bleibt-bestehen-302444 Aufruf 10.03.2024 

Schuller, Jil 2022: o. S. Nicht immer fix. Tiere wechseln das Geschlecht – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Erschienen 20.01.2022. 
URL: tierwelt.ch/artikel/natur-umwelt/tiere-wechseln-das-geschlecht-aus-ganz-unterschiedlichen-grunden-403473 Abruf 12.03.2024

Voland, Eckart; Johannes, Johow, 2012: Geschlecht und Geschlechterrolle: Soziobiologische Aspekte, Bundeszentrale für politische Bildung. Aus Politik und Zeitgeschichte. Erschienen 08.05.2012. URL: bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/135433/geschlecht-und-geschlechterrolle-soziobiologische-aspekte Aufruf 10.03.2024

Zoo Zürich 2022: o. S., o. A. Wenn Tiere das Geschlecht wechseln. 19.01.2022, zoo.ch/de/zoonews/wenn-tiere-das-geschlecht-wechseln Aufruf 12.03.2024

Lesetipp und weitere Links zu Fragen des Geschlechts: 
blogs.uni-bremen.de/scienceblog/2023/03/16/von-zwei-vielen-und-zu-wenig-geschlechtern
taz.de/Wissenschaftliche-Fakten-ueber-Geschlecht/!5862717

Lesetipp von Prof. Dr. rer. nat. Heike Pröhl; Tierärztliche Hochschule Hannover, Zoologie, zur weiteren Einordung der tierischen und menschlichen Welt: Diversity and flexibility of sex-change strategies in animals. Philip L. Munday, Peter M. Buston  and Robert R Warner. Corresponding author: Munday, P.L. (philip.munday@jcu.edu.au). Available online 14 November 2005, Review TRENDS in Ecology and Evolution Vol.21 No.1 February 2006. sciencedirect.com

T H I N K A G A I N Insights & Perspectives, Biological sex is binary, even though there is a rainbow of sex roles. Denying biological sex is anthropocentric and promotes species chauvinism Received: 1 September 2022 Revised: 2 December 2022 Accepted: 2 December 2022 DOI: 10.1002/bies.202200173; onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/bies.202200173
 

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llustrationen: Monja Marxen

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