Werte Vielstimmigkeit wagen?

Text: Prof. Dr. Carsten Rensinghoff

Warum steht da am Satzende ein Fragezeichen? Natürlich können wir Vielstimmigkeit wagen! Das machen wir doch schon immer so. Vor allem in einer modernen, auf Demokratie und Heterogenität ausgerichteten, Gesellschaft ist Vielstimmigkeit ein Muss. Jede und jeder und vielleicht jedes soll in der Stimme singen dürfen, wie es ihr oder ihm behagt. Jede Stimmlage ist anders und deshalb interessant. Sopran, Alt, Tenor, Bass: Alle Stimmlagen haben ihre Eigenarten und Besonderheiten. Alle Stimmlagen sind einzigartig. Alle Stimmlagen vervollkommnen das Ganze. Wichtig ist, Vielstimmigkeit, Andersartigkeit zu tolerieren oder mehr noch zu akzeptieren.


Und hier beißt sich wohl der Schwanz in die Katze, weil Vielstimmigkeit nicht generell toleriert oder gar akzeptiert wird. Wenn wir uns gegenwärtig das politische Parteienspektrum anschauen, dann erkennt man da einige Stimmungsbilder, einige Stimmungsmache, die nicht tolerier- oder akzeptierbar sind, weil sie Vielstimmigkeit verhindern wollen. Das Unwort des Jahres 2023, Remigration, ist z.B. ein Kampfbegriff, der in rechtsextremen Gruppierungen verwendet wird und sich gegen den legalen Aufenthalt von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland ausspricht. Vielstimmigkeit ist über Remigration nicht gegeben.

Das Wagnis Vielstimmigkeit ist hier dann lästig, unangenehm, nicht tolerierbar, nicht akzeptierbar. Zu diesem Unwort des Jahres 2023 erinnere ich mich an das Unwort des Jahres 1998. Damals lautete das Unwort oder, weil es zwei waren, lauteten die Unwörter sozialverträgliches Frühableben. Dies betrifft nun auch das Fach, welches ich an der DIPLOMA Hochschule vertrete, nämlich die Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik. Seinerzeit hat der Präsident der Bundesärztekammer Karsten Vilmar die Sparpläne der rot-grünen Bundesregierung mit dieser Wortschöpfung kritisiert. Ärztinnen und Ärzte konnten den vorzeitigen Tod also in Betracht ziehen und in aussichtslosen Fällen, gegen den hippokratischen Eid, auch fördern. Wenn man bedenkt, dass der 1930 geborene Vilmar Unfallchirurg ist, dann kann man schon ins Nachdenken kommen. Vielstimmigkeit durch sozialverträgliches Frühableben? Mitunter kann ein schwerer Unfall der Solidargemeinschaft Behandlung- und Betreuungskosten verursachen und für das weitere Leben des Betroffenen folgenreich sein. Hier verhindert das sozialverträgliche Frühableben Vielstimmigkeit.

Am 3. März 2024 hatte Gisela Steinhauer in ihrer WDR 2-Sendung Sonntagsfragen die 61-jährige Susanne Matthiessen zu Gast. Anlässlich des am 8. März jährlich stattfindenden internationalen Frauentages, unterhielten sich die beiden über die Frauenbewegung, die in den 1960er Jahren Fahrtwind aufnahm. Im Jahr 1964 erreichte der Babyboom seinen Höhepunkt. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wurden in diesem Jahr in Deutschland 1,36 Millionen Babys geboren. 2022 lag die Geburtenrate in Deutschland bei unter 800.000. Susanne Matthiessen führt aus, dass die Babyboomergeneration in den 1960er und 1970er Jahren gleichberechtigt hohe Bildungsabschlüsse erreichen konnte. Beide Geschlechter seien in dieser Zeit auf breiter Front in den Arbeitsmarkt und in die Hochschulen geströmt. Die Babyboomergeneration sei dann auch die erste Generation gewesen, in der Frauen und Männer gleichberechtigt Abitur machen konnten, womit diese Babyboomergeneration eine gewisse Klassenlosigkeit ausgezeichnet habe. Heute, im Jahr 2024, wird zwei Tage vor dem internationalen Frauentag, der Equal Pay Day begangen. An diesem Tag streiten viele in der Gesellschaft für eine Entgeldgleichheit, also gleiches Geld am Ende des Monats für alle. Ein vielstimmiger Chor für ein gleiches Entgeld!

Auch wenn es auf den ersten Blick erstaunlich erscheint. Vielfalt und Vielstimmigkeit brauchen ein großes Maß an Gleichheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, damit sich die Stimmen individuell gestärkt und gesellschaftlich gestützt zu einem harmonischen Chor der Vielfalt entfalten können. Und wenn für mich mal ein Ton im Chor schräg klingen mag, was ist es dann …?  

 

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Illustrationen: Antje Schulz

Illustrationen: Antje Schulz

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