Religionssensible psychologische Beratung
Text: Büsra Kabaktepe
Eine große Vielfalt an Kulturen und Religionszugehörigkeiten prägt das Leben und die Gesellschaft in Deutschland. Diese Vielfalt an religiösen und spirituellen Orientierungen bringt sowohl Chancen und Ressourcen als auch Herausforderungen in vielen Lebensbereichen mit sich. Auch die psychosoziale Versorgung in Deutschland steht diesen gegenüber. Eine Stimme, die seit den letzten Jahren im Bereich der Psychologie mehr Gehör findet, ist die Stimme der religiös/spirituell lebenden Menschen.
Religiöse/spirituelle Werte sind zentrale Bestandteile der Kultur und prägen die Identität des Menschen. Religiosität und Spiritualität beschäftigen sich mit der Verbundenheit und Beziehung zu einer höheren Macht, der Sinnhaftigkeit im Dasein und existenziellen Fragen (Egger, 2013; Utsch, 2020). Die religiöse/spirituelle Gemeinschaft, religiöse/spirituelle Praktiken, der Glaube und das religiöse/spirituelle Erleben können eine Ressource darstellen und die Bewältigung von Lebenskrisen unterstützen, jedoch auch zum Teil des Problems und zum Stressor selbst werden (Sollgruber, 2017; Zwingmann & Hodapp, 2019).
Die Religiosität/Spiritualität kann den Beratungs-/Therapieprozess bedeutsam beeinflussen und sollte von Anfang an als möglicher Einflussfaktor in Betrachtung gezogen werden, wenn sie zur Selbstdeutung der Ratsuchenden gehört. Hans Thiersch sagt dazu „Wenn Lebensweltorientierung bedeutet, Menschen in ihrer Selbstdeutung ernst zu nehmen, und wenn diese Selbstdeutung religiös ist, ist diese Selbstdeutung ein selbstverständlicher Ausgangspunkt einer gemeinsamen Arbeit.“ (Thiersch in Nauerth et al., 2017b, S. 29-30) Es ist jedoch nicht selbstverständlich, dass psychologisch Beratende oder Therapierende den religiösen/spirituellen Überzeugungen und Praktiken von Ratsuchenden vorurteilsfrei begegnen (Utsch, 2018). Das Beratungs-/Therapiezimmer stellt keinen neutralen Ort dar, sondern ist geprägt von sozialen, psychischen oder symbolischen Grenzen, die sich durch Projektionen, Erwartungen und Fantasien zeigen können (Rommelspacher, 2000). Der Diskurs um Vielfalt und Differenzen zeigt die soziale Benachteiligung und Diskriminierung in unserer Gesellschaft aufgrund der Hautfarbe, des Geschlechts, der ethischen Herkunft oder der Religionszugehörigkeit auf. Die gesellschaftliche Bewertung dieser Kategorien, führt zu ungleichen und ungerechten Verteilungen von Möglichkeiten zur Lebensgestaltung (Hahn, 2017). Es stellt sich die Frage, was in der psychologischen Beratung beachtet werden muss, um den Bedürfnissen religiöser/spiritueller Ratsuchenden gerecht zu werden und sie adäquat zu versorgen.
In diesem Kontext stellt die Religionssensibilität eine sehr wichtige Kompetenz für die Beratung und Therapie von religiösen/spirituellen bzw. so gelesenen Menschen dar. Sie kann als die Fähigkeit definiert werden, durch die den religiösen/spirituellen Erfahrungen anderer Menschen mit Empfindsamkeit, Feinfühligkeit und Respekt begegnet wird, sodass eine differenzierte Wahrnehmung der Realität der Religion/Spiritualität in der Lebenswelt der Menschen und eine entsprechende Integration in die professionelle Handlung möglich wird (Nauerth et al., 2017a). Religionssensibilität in der psychologischen Beratung umfasst kognitive, handlungsbezogene und (selbst-) reflexive Kompetenzen. Diese schließen Wissen über Religionen/Spiritualität und religiöse/spirituelle Gruppierungen, sowie Kenntnisse über die Spezifika des Arbeitens mit religiösen/spirituellen Menschen und den Einfluss religiöser/spiritueller Faktoren auf die Gesundheit mit ein. Von großer Bedeutung ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Deutungen der persönlichen Lebenswelt und Reflexion der eigenen Religiosität/Spiritualität, sowie auch die Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Ratsuchenden (Freund, 2017). Auch Kenntnisse über die Prozesse der gesellschaftlichen Pluralisierung, soziale Mechanismen und den gesellschaftlichen Stellenwert von religiösen/spirituellen Zugehörigkeiten sind grundlegende Elemente dieser Kompetenz (Funk, 2022; Hahn, 2017).
Für die Aneignung und Etablierung einer religionssensiblen Haltung in psychologischen/sozialen Arbeitsbereichen scheint es von großer Bedeutsamkeit zu sein, dass (angehende) Fachkräfte die Möglichkeit bekommen, sich auf kognitiver, handlungsbezogener und (selbst-)reflexiver Ebene damit auseinanderzusetzen. Für Hochschulen, Aus- und Weiterbildungsinstitute bedeutet dies, die Inhalte und Angebote an Seminaren und Fortbildungen im professionellen und institutionellen Rahmen zu erweitern. Es sollten mehr Möglichkeiten für interreligiöse und interkulturelle Begegnungen und den Dialog geschaffen werden. Zudem sollten insbesondere Hochschulen Forschungsarbeiten in diesem Kontext unterstützen, sodass unter anderem Leitlinien für Trainings religionssensibler Kompetenzen entwickelt werden können.
Es lässt sich festhalten, dass der aktuell besonders laute Ruf nach mehr Toleranz, Respekt und Offenheit in unserer Gesellschaft auch in den Reihen der psychologischen Fachkräfte mehr erhört werden sollte. In unserer vielstimmigen Gesellschaft mit unterschiedlichsten Lebenswelten, können psychologische Fachkräfte einen Beitrag dazu leisten, dass die Stimmen derer, die in der Minderheit oder etwas leiser sind, gehört werden. Dafür bedarf es jedoch an erster Stelle eines eigenen sensiblen Gehöres. Die poetischen Worte von M. Alexander C. Warren fassen diese Sensibilität abschließend zusammen:
„Unsere erste Aufgabe in der Annäherung an eine andere Person, eine andere Kultur, eine andere Religion ist es, unsere Schuhe auszuziehen, denn der Ort, dem wir uns nähern, ist heilig. Sonst könnten wir uns dabei ertappen, wie wir auf dem Traum eines Anderen herumtreten. Noch ernster ist: Wir könnten vergessen, dass Gott schon dort war vor unserer Ankunft.“
(Marc Alexander C. Warren, o.J., zitiert nach Hennecke & Viecens, 2017, S. 14)
Literaturverzeichnis
Egger, J. (2013). Zur spirituellen Dimension des biopsychosozialen Modells: Im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftlicher Medizin und aufgeklärter Rationalität einerseits und Spiritualität und Esoterik andererseits. Psychologische Medizin, 24(2), S. 39-46.
Freund, H. (2017). Kultursensibler Umgang mit religiösen Klienten in der Psychotherapie. Spiritual Care, 6(1), S. 47–55.
Funk, C. (2022). Religionssensibilität in pädagogischen Handlungsfeldern. In B. Konz & A. Schröter (Hrsg.) DisAbility in der Migrationsgesellschaft. Betrachtungen an der Intersektion von Behinderung, Kultur und Religion in Bildungskontexten (S. 259- 269). Verlag Julius Klinkhardt.
Hahn, K. (2017). Religionssensibilität in der Beratung. In M. Nauerth, K. Hahn, M. Tüllmann & S. Kösterke (Hrsg.), Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder (S. 322-337). Kohlhammer.
Hennecke, C. & Viecens, G. (2017). Gottes Design entdecken. Wie der Geist weht, wo er will. Theologie und Praxis einer gabenorientierten Pastoral. Echter Verlag.
Nauerth, M., Hahn, K., & Tüllmann, M. & Kösterke, S. (Hrsg.). (2017a). Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder. Kohlhammer.
Nauerth, M., Hahn, K., & Tüllmann, M. & Kösterke, S. (Hrsg.). (2017b). „Alltag braucht Transzendenz“. In M. Nauerth, K. Hahn, M. Tüllmann & S. Kösterke (Hrsg.), Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder (S. 29-40). Kohlhammer.
Rommelspacher, B. (2000). Interkulturelle Beziehungsdynamik in Beratung und Therapie. In B. Strauß & M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Zeiten der Veränderung (S. 161-171). Der Westdeutsche Verlag.
Sollgruber, A. (2017). Spiritualität und Schmerzkrankheit. Spiritual Care, 6(3), S. 319– 321.
Utsch, M. (2018). Herausforderungen einer kultursensiblen Psychotherapie. In M. Utsch, R. M. Bonelli, & S. Pfeiffer (Hrsg.), Psychotherapie und Spiritualität (2. Aufl., S. 59-73). Springer.
Utsch, M. (2020). Persönlichkeitswachstum durch religiös-spirituelles Praktizieren. Persönlichkeitsstörungen, 24(3), S. 155-167.
Zwingmann, C. & Hodapp, B. (2019). Religiosity/Spirituality and Mental Health: A Meta analysis of Studies from the German Speaking Area. Journal of Religion and Health, 58, 1970–1998. doi.org/10.1007/s10943-019-00759-0


Illustrationen: Anne Lange