Reisebericht Marseille: Die Heimat auf Reisen wiederfinden
Text & Titelbild: Prof. Dr. Kathrin Rothenberg-Elder
Schon vor vielen Jahren hatte ich den Plan, einen Monat in eine andere Stadt zu ziehen, wenn das letzte meiner Kinder mit der Schule fertig wäre. Mein Mann und ich entschieden uns für Marseille, im Oktober 2023 war es so weit. Mein Mann und ich sind beide (wenn ich auch nur einige Jahre) in unterschiedlichen Ländern am Mittelmeer aufgewachsen, wir wollten in eine größere Stadt ziehen, wir wollten nicht fliegen (Marseille ist von meiner Heimatstadt Köln gerade 7 Stunden mit der Bahn entfernt). Bei einem Probebesuch ein Jahr davor war die Entscheidung klar.
Marseille gibt mir jede Menge Lernanlass, während ich dank der Virtualität unserer Hochschule weiter lehre, mich um meine Studierenden kümmere und in meinen Teams arbeite.
Marseille: Das ist nicht nur Sprache – es ist das anderswo sein.
Viele Wörter klingen anders, die ganze Stadt singt anders, die Straßen sind viel lauter in Marseille, und die Stille zwischen dem Lärm fühlt sich für mich zumindest fröhlicher, wärmer an.
Dazu spreche ich durch meine Kindheit gut Französisch. Oder auch schlecht, aber es ist doch so etwas wie die Sprache meines Herzens: Als Kind bin ich fast zwei Jahre in Algerien zur Schule gegangen. Ich bin also mit zwei Sprachen aufgewachsen, die ich mit mir herumtrage wie zwei sehr unterschiedliche Lieblingskleider. Ich habe einen Zweisprachler geheiratet und zweisprachige Kinder. Treffen wir uns als Familie, fliegen alle möglichen Sprachen durch die Luft: Hebräisch in der Ecke, in der mein Mann mit seinen Schwestern spricht, in einer anderen unterhalten sich meine Töchter auf Englisch, das ist ihre Schwesternsprache. Sie wechseln dann aber mehr oder minder bereitwillig ins Deutsche, wenn meine älteste Enkeltochter sich dazusetzt. Wenn ein Gast aus einem anderen Land dazukommt, entstehen andere kleine bunte Sprachinseln ... Ich liebe das.
Wie ist das für Sie – haben Sie eine Lieblingssprache?
Für diesen Monat in Marseille habe ich mein Französisch vertieft und mich regelmäßig dank Duolingo und französischen Büchern in diese Sprache getunkt. Französisch aktiviert etwas in mir. Vielleicht, weil ich in ernsthaften Unterhaltungen in dieser Sprache so anders, so viel intensiver zuhören muss, um wirklich dabei zu bleiben. Oft sitze ich hoch aufmerksam an der vordersten Kante des Stuhls, um alle Informationen – auch die in diesen Situationen so hilfreichen körpersprachlichen – aufzunehmen. Ich hoffe, ich kann dieses Lauschen auch für andere Gelegenheiten nutzen, auch für das Deutsche. Dazu lehrt mich Französisch, meine eigene Unvollkommenheit anzunehmen, zu kompensieren und dadurch zu nutzen. Meine Verletzlichkeit macht mich behutsamer. Es erinnert mich daran,wie ich an einem Tag am Meer eine Frau am Wellensaum beobachte: Vorsichtig hockte sie sich in den Sand und streckte ihre Hand nach ihm aus. An diesem Tag war das Meer ruhig, trotzdem näherte sie sich dem Saum mit Respekt, wie einem anderen Lebewesen. Oder eines Abends die Feuertänzerin am Hafen: Ihr Handy spielte Mesdames (von Grand Coprps malade, 2020) - wie die andere Frau mit dem Meer spielte sie mit dem Feuer wie mit einem freundlichen und zugleich respekteinflößenden Lebewesen. Und war es nicht auch so?
„Je m‘baladais sur l‘avenue, le coeur ouvert à l‘inconnu.
J‘avais envie de dire bonjour à n‘importe qui
N‘importe qui et ce fut toi, je t‘ai dit n‘importe quoi,
Il suffisait de te parler, pour t‘apprivoiser.“
„Ich ging die Allee entlang, mein Herz war offen für das Unbekannte.
Ich hatte Lust jedem Hallo zu sagen.
Egal wem, und das warst du, ich habe dir erzählt,
Es reichte, mit dir zu reden, um dein Zutrauen zu gewinnen.“
Joe Dassin, 1069
An einem anderen Morgen beobachtete ich, wie eine Kellnerin von einem der nahen Cafés den Obdachlosen Kaffee brachte, dem dazugehörigen Hund Futter in seine Schale schüttete und dann mit den Männern eine Zigarette rauchte, bevor sie wieder zur Arbeit ging. Fürsorge und Gemeinschaft – wie vorbildlich!
Dieser Strand ist überhaupt großartig, besonders morgens: Leute allen Alters streben zur Wasserkante. Es gibt eine Gruppe von jungen Frauen mit ihren Hunden. Es gibt einen Mann, der sich in einer Höhlung ein Heim eingerichtet hat. Die Angler am Steg manchmal. Die frühen Schnorchler:innen und Schwimmer:innen wie ich. Jede:r scheint eingewickelt in seine Eigenzeit um diese Zeit kurz vor Sonnenaufgang, jede:r macht sein Ding, ist sich selbst genug und wagt das auch in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Ich gehe also früh morgens vor der ersten Hochschulveranstaltung ans Meer, trinke meinen ersten Tee und gehe schwimmen. Und dann kommt die Sonne über den Berg und umglänzt alles, als wäre es der erste Tag der Schöpfung – und ist es nicht irgendwie auch so?
Die fremde Stadt erlaubt mir, dem Alltag stärker seine Geheimnisse zu lassen und nicht gleich alles rational aufzuklären - schließlich wanken die Spielregeln dessen, was ‘sinnvoll’ oder ‘normal’ ist, im Unvertrauten dieser Stadt. Ich kann also unverschämt dazuerfinden. Was tun diese jungen Leute jeden Wochentag vor dem Militärgelände? Warum stehen sie an? Stehen sie an, weil sie ihre Radiergummis vergessen haben? Weil es nur dort den besten Pudding der Stadt gibt und das ausschließlich über Insta oder ein neuen Feed, den ich noch nicht kenne, verbreitet wird? Ich spiele in Gedanken und gewinne dadurch neue Freiheiten.
Irgendwann in diesen Wochen beginne ich aber auch zu straucheln und die Orientierung zu verlieren: Wo ist meine Heimat? Mein Ort? Nach einer Weile löst sich der Knoten, und ich fühle mich plötzlich außerordentlich aufgeräumt. Hier und dort. Das ist, woher ich komme, es sind zwei Wurzeln, aus denen ich Kraft schöpfe.
Diese Reise bot mir vielfältige teilweise fast magische Begegnungen, ein Training im Umgang meiner Unvollkommenheit und Erfahrungen und die Erkenntnis, wie wichtig die alltägliche Behutsamkeit, die durch diese Haltung ausgelöst wird, ist. Sie hat Entwicklungen angestoßen, die längst noch nicht zu Ende sind.
Ich danke meiner Hochschule mit ihren virtuellen Arbeitsformen, dass sie das möglich gemacht hat und besonders meiner Chefin, Prof. Dr. Michaela Zilling, dass sie dieses Abenteuer durch ihr Wohlwollen unterstützt hat.

Illustration: Anja Peithman




Illustrationen: Anja Peithman