Aller Anfang ist schwer

EK: Ich denke, die meisten unserer Leserinnen und Leser kennen Arbeiterkind nicht. Was machen Sie?
KU: Wir sind eine gemeinnützige Organisation für alle, die als erste aus ihrer Familie studieren. Ich bin selbst die erste aus meiner Familie, die einen Hochschulabschluss erreicht hat. Ich habe gemerkt, dass ich viele Informationen nicht, oder zu spät bekommen habe und mir alles mühsam und teilweise zu spät zusammensammeln musste. Zum Beispiel über Studienfinanzierung, Stipendien, etc., so dass ich mich dann nicht mehr bewerben konnte.Deswegen haben wir vor 14 Jahren eine Internetseite gestartet, ursprünglich um dieses Informationsdefizit auszugleichen und dazu beizutragen, dass andere es leichter haben. Daraus ist inzwischen eine große Initiative mit 80 lokalen Arbeiterkind-Gruppen in ganz Deutschland geworden. Die Ehrenamtlichen gehen an Schulen und Hochschulen. Sie nformieren dort zum Studium und über Stipendien. Gleichgesinnte tauschen sich auf offenen Treffen aus und es gibt ein Infotelefon, über das uns alle erreichen können, die zu Hause keinen fragen können.

EK: Sie sind auch selbst ein Arbeiterkind. Wollen Sie kurz über Ihren Bildungsweg berichten?
KU: Mein Bruder und ich haben gemeinsam als erste aus der Familie studiert. Wir konnten niemanden fragen, hatten keine Vorbilder und haben keine Informationen zum Studium bekommen. Der Standard war, dass man eine berufliche Ausbildung macht, was ja auch wunderbar ist, wenn man die Entscheidung informiert trifft. Wir sind zur Arbeitsagentur gegangen und haben einen Test gemacht, aber der hat eigentlich überhaupt nicht auf mich gepasst. Ich musste mich also selbst um alles kümmern. Der Schritt ins Studium war dann auch nochmal schwierig, weil unsere Eltern gesagt haben: „Ja, macht das gerne, aber wir können euch da nicht unterstützen“. Und das geht vielen so, was teilweise sehr unsicher macht.

EK: Ich bin auch ein Arbeiterkind und bei mir war es eher so, dass gesagt wurde: „Geh unbedingt studieren“, ich mich dann aber erstmal dagegen entschieden habe, weil ich diese Hürden gespürt habe und dass es ein komplettes Ausbrechen aus dem gewohnten Umfeld wäre. Erleben Sie das bei den Engagierten auch?
KU: Auf jeden Fall. Man schlägt ja einen ganz neuen Weg ein und macht etwas, was noch nie jemand anderes in der Familie gemacht hat. Es ist sehr unterschiedlich, wie die Familien reagieren, das ist ein großes Thema. Deswegen ist es uns auch wichtig, dass wir sozusagen die älteren Geschwister sind, die mit Rat und Tat zur Seite stehen. Trotzdem ist es eine Herausforderung, wenn man wirklich der oder die erste ist.

EK: Ich vergleiche Studieren als Arbeiterkind damit, eine neue Sprache zu lernen. Mentoring kann da hilfreich sein. Das machen Sie ja auch, oder?
KU: Guter Vergleich. Wir machen das nicht so formal, sondern man geht einfach zur nächsten lokalen Arbeiterkind-Gruppe in der Nähe und findet dort verschiedene Menschen, die einem weiterhelfen können. „Richtiges Mentoring“ machen wir hinterher beim Berufseinstieg, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass es nicht so einfach ist, den ersten Job zu finden. Gerade wenn man vielleicht nicht die prestigeträchtigen Praktika gemacht hat oder auch nicht ins Ausland gehen konnte, weil das finanziell einfach nicht machbar war. Oder man verkauft sich ein bisschen unter Wert und weiß nicht, wie dieser akademische Arbeitsmarkt funktioniert.

EK: Das ist sehr wertvoll – ich meine, das muss man ja auch erstmal wissen, dass man vielleicht nach speziellen Praktika Ausschau halten sollte, weil das eventuell später mal sinnvoll sein könnte.
KU: Ich habe auch erst später gelernt, dass der Berufseinstieg eigentlich schon im Studium anfängt. Ich wusste nicht, was danach kommt, konnte es mir auch nicht richtig vorstellen und habe mich erstmal auf das Studium konzentriert. Heute beraten wir Studierende dazu frühzeitiger, darüber bin ich froh.

EK: An der DIPLOMA Hochschule kann man ohne NC und ohne Abitur studieren. Wie stehen Sie zu dem Thema „Studieren ohne Abitur“?
KU: Das finde ich ein tolles Angebot und freue mich sehr, dass das bei Ihnen möglich ist. Leider sind ja die Zugangskriterien sehr unterschiedlich und viele wissen gar nichts davon. Man muss sich oftmals lange durchfragen und das ist natürlich sehr aufwendig. Ich finde, unser System muss da durchlässiger werden, weil manche eben einfach nicht die Chance hatten, Abitur zu machen. Gerade bei Nichtakademikerkindern entscheiden sich viele sehr spät noch für ein Studium. Studien zeigen, dass diejenigen, die ohne Abitur tudieren, sehr ehrgeizig sind, häufig auch sehr schnell studieren und auch sehr erfolgreich, weil sie wissen, warum sie es machen.

EK: Apropos Studien – Ich war ein bisschen erschrocken, als ich neulich die Zahlen gesehen habe, wie viele Kinder aus Akademikerfamilien gegenüber Nichtakademikerfamilien studieren und wie viele davon letztendlich ihren Master machen oder sogar promovieren.
KU: Ja, man macht das, was man aus der Familie kennt. Wenn man als Akademikerkind studiert, dann ist das nichts Besonderes. Aber wenn man aus einer nichtakademischen Familie kommt, ist es eher normal, eine berufliche Ausbildung zu machen. Und dann ist die Studienfinanzierung bei uns natürlich auch ein großes Thema. Ich bin froh, dass es jetzt eine BAföG Reform gab, die dazu führt, dass man BAföG bis 45 Jahre beantragen kann. Ich finde, das ist im Sinne des lebenslangen Lernens und eröffnet nochmal ganz neue Möglichkeiten.

EK: Wir sprechen von sozialer Herkunft. Dazu fällt mir ein Satz ein, den man oft als junger Mensch hört: „Wenn du dich nur genügend anstrengst, dann kannst du alles schaffen, was du möchtest“. Was halten Sie von dieser Aussage?
KU: Grundsätzlich habe ich auch die Einstellung, dass Menschen ihre Träume verfolgen und ihr Potenzial entfalten sollen. Aber natürlich ist es so, dass das immer von den Ressourcen abhängt. Und nicht jeder Mensch hat die gleiche Ausgangsposition. Ein Kind aus einer Familie mit wenigen finanziellen Ressourcen hat weniger Möglichkeiten und muss sich mehr anstrengen. Ein unvergütetes Praktikum bei einer tollen Firma, eine Wohnung am Studienort einer angesehenen Universität – das können schnell auch zu große Hürden werden. Menschen haben da nicht die gleichen Ausgangschancen.

EK: Sehen Sie da Potenzial, dass sich das verändern kann und wie?
KU: Das ist ein langer Prozess; das sind dicke Bretter. Ich glaube, mit einer allgemeinen Sensibilisierung auch von politisch Verantwortlichen ändert es sich langsam, zum Beispiel mit dem BAföG. Privilegierte Menschen sehen die Herausforderungen viel weniger, was Geldarmut und fehlende Unterstützung von zuhause bedeuten. Ich denke, wir müssen wirklich daran arbeiten, dass wir das als Staat und als Gesellschaft kompensieren können.

EK: Sie haben auch ein Buch geschrieben, das sich dem Thema Chancengleichheit widmet.
KU: Genau, das Buch heißt „Ausgebremst – warum das Recht auf Bildung nicht für alle gilt.“ Es geht darin genau darum, dass nicht jeder die gleichen Chancen hat und was die Herausforderungen sind. Dazu habe ich auch ein paar Fallbeispiele aufgeführt. Es gibt aber nicht nur das Ausgebremst werden von außen, sondern man bremst sich häufig auch selbst aus, weil Selbstbewusstsein, Wissen oder finanzielle Möglichkeiten fehlen. Ich versuche aufzuzeigen, wie das alles zusammenspielt.

EK: Dieses Ausgebremst werden, erlebe ich vor allem auch als Frau. Allerdings habe ich in letzter Zeit in Gesprächen immer wieder gehört: „Das ist ja gar nicht mehr so“.
KU: Ja, das kommt noch dazu und es ist eben doch noch so. Das erlebe ich auch selbst, in meiner Position. Es hat sich zwar schon einiges getan und in der Stadt sind wir vielleicht auch offener. Aber gerade im ländlichen Raum sind die traditionellen Rollenmuster doch schon noch sehr weit verbreitet und fest verankert.

EK: Was möchten Sie uns, besonders uns im Fernstudium abschließend noch mit auf den Weg geben?
KU: Ich lade eure Fernstudierenden ein, unsere Angebote anzunehmen. Gerade in dieser selbstorganisierten Studienform ist man ja vielleicht öfter mal allein oder steht vor Hürden. Ich kann mir vorstellen, dass viele, die ein Fernstudium machen, aus nichtakademischen Familien kommen, weil sie nebenbei arbeiten müssen oder andere Verpflichtungen haben. Also kann ich nur dazu ermutigen, sich mit uns zu vernetzen und sich bei Bedarf Unterstützung zu holen. Oder auch mal mitzumachen, wenn sie andere mit ihrem eigenen, als Fernstudierende sicher spannenden Bildungsweg ermutigen möchten.

EK: Das ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch und Ihre Zeit.
https://arbeiterkind.de/

Arbeiterkind.de,  Illustration ©Xue Liu

Arbeiterkind.de, Illustration ©Xue Liu

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